Anfragebeantwortung zu Polen: Aktivitäten des russischen Geheimdienstes in polnischen Flüchtlingslagern [a-8559]

22. November 2013
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Das Centre on Migration, Policy, and Society (COMPAS), ein Forschungszentrum der Universität Oxford, schreibt in einem 2008 veröffentlichten Bericht, dass verschiedene Informanten angegeben hätten, dass Russland auf die Anerkennung und Rückführung von tschetschenischen AsylwerberInnen Einfluss nehme. Es werde vermutet, dass der russische Geheimdienst FSB mit den Geheimdiensten anderer GUS-Länder zusammenarbeite, insbesondere in der Ukraine, aber auch in Polen und der Slowakei, um Asylverfahren zu unterminieren. TschetschenInnen würden dadurch von fairen Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft und der Institution Flüchtlingsstatus offenbar ausgeschlossen:
„The allegations made by various informants are that Russia influences recognition and return practices with respect to Chechens. It is suspected that the Federal Security Service of Russia (FSB, a KGB successor) collaborates with the security services in other CIS [Commonwealth of Independent States] countries, notably the SBU [Sluschba bespeky Ukrajiny] in Ukraine, but also with Polish and Slovakian services and thereby undermines asylum procedures. Thus, Chechen refugees seem to be effectively excluded from fair refugee status determination procedures and the institution of refugee status.“ (COMPAS, 2008, S. 5)
Das sich selbst als „unabhängige, internationale und islamische tschetschenische Internetagentur“ beschreibende Kavkaz Center, das dem islamistischen und separatistischen Kaukasus-Emirat nahesteht, veröffentlicht im Februar 2011 einen Artikel, in dem erläutert wird, dass der aus Russland geflohene Menschenrechtsaktivist Jewgenij Nowoschilow aus Warschau über „Terror“ gegen tschetschenische Flüchtlinge berichte. Seinen Informationen zufolge herrsche unter den Flüchtlingen in Polen Angst. Flüchtlinge aus dem Nordkaukasus würden sich davor fürchten, bei ihren Interviews in der Ausländerbehörde die ganze Wahrheit über Verfolgung und Gewalt seitens des russischen Geheimdienstes oder der Kadyrowzy zu erzählen, da sie von Fällen wüssten, in denen Mitarbeiter der Ausländerbehörde den Inhalt derartiger Interviews an den russischen Geheimdienst oder die Kadyrowzy weitergeleitet hätten:
„Бежавший от политических преследований в России правозащитник Евгений Новожилов сообщил из Варшавы о терроре против чеченских беженцев в Польше, развязанном русской террористической группировкой ФСБ и ее польшевицкими агентами. Он в частности указывает:
‚Среди беженцев в Польше царит атмосфера страха. Они чувствуют себя защищёнными не более, чем в Чечне или в России. Беженцы с Северного Кавказа, прибывающие в Польшу, боятся рассказывать в своих интервью в Управлении по делам иностранцев всю правду о преследованиях и насилии, которым они подверглись со стороны русских спецслужб и кадыровцев, так как знают о случаях, когда сотрудники Управления по делам иностранцев передавали русским спецслужбам и кадыровцам содержание беженских интервью.‘“ (Kavkaz Center, 13. Februar 2011)
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) erwähnt in einem Bericht vom März 2011 zur Lage tschetschenischer Flüchtlinge in Polen Folgendes:
„Außerdem tauchen immer wieder Informationen auf, dass der russische Geheimdienst und auch Verbündete des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow Druck auf die Flüchtlinge in Polen ausüben.“ (GfbV, März 2011, S. 10)
Das Belgian Refugee Council (CBAR-BCHV), eine NGO, die kostenlosen Rechtsbeistand für AsylwerberInnen, anerkannte Flüchtlinge, Personen mit subsidiärem Schutz sowie deren RechtsanwältInnen und SozialarbeiterInnen anbietet, zitiert in einem Bericht vom Dezember 2011 zu einer im September 2010 durchgeführten Fact-Finding-Mission nach Polen eine Passage aus einem Bericht des European Council on Refugees and Exiles (ECRE) vom März 2011. In dieser Passage wird angeführt, dass unter tschetschenischen AsylwerberInnen in Polen die weit verbreitete Angst herrsche, dass es gefährlich sei, in Polen zu viele Informationen preiszugeben und dass es nicht sicher sei, in Polen zu bleiben. Diese Angst sei in vielen Gesprächen, die die Mitglieder der Fact-Finding-Mission mit TschetschenInnen im September 2010 geführt hätten, bestätigt worden:
„According to the information in the ECRE Guidelines on Chechens, received from their meeting in July 2010 with the Polish Helsinki Foundation for Human Rights, ‘the rise in negative decisions in Poland may be linked to the nature of the claims being submitted. There are more young people aged 20-25 applying, who are often not educated, do not speak Russian well and do not provide enough information on their claim [according to the Head of the Office for Foreigners]. There seems to be a widespread fear amongst asylum seekers from Chechnya that it is dangerous to give too much information in Poland and that it is not safe to stay there.’ This fear and distrust has been largely confirmed during the multiple discussions the members of the mission had with Chechen asylum seekers in September 2010.“ (CBAR-BCHV, Dezember 2011 , S. 19)
In dem zuvor erwähnten Bericht von ECRE vom März 2011 wird zudem angeführt, dass es laut einer Untersuchung der französischen Flüchtlingsrechtsorganisation France Terre D’Asile 2009 keine dokumentierten Fälle gegeben habe, in denen TschetschenInnen in Polen ermordet oder entführt worden seien. Einige TschetschenInnen in Polen seien nach Ansicht der Organisation aber einem Risiko ausgesetzt, vor allem diejenigen, die in den Medien präsent gewesen seien oder sich politisch oder juristisch gegen das aktuelle Regime betätigt hätten. Der französische Asylgerichtshof habe im Februar 2011 entschieden, einem Tschetschenen Flüchtlingsstatus zu verleihen, der zuvor in Polen als Flüchtling anerkannt worden sei. Der Mann habe Polen verlassen, da er mehrfach am Telefon bedroht und von Kadyrows Leuten beobachtet worden sei. Der Mann habe Angst davor gehabt, von Letzteren entführt und gefoltert zu werden, und habe bei den polnischen Behörden um Schutz angesucht, habe jedoch keinen Zugang zu effektivem internationalen Schutz in Polen erhalten:
„France Terre D’Asile noted in 2009 that although there had been no documented cases of assassinations or kidnappings in Poland, some Chechens there are at risk, particularly those who have a media presence or who have engaged in political or legal actions against the current regime. In a decision issued on 15 February 2011 the French Asylum Court of Appeal granted refugee status to a Chechen man who had previously been recognised as a refugee in Poland. He had left Poland after being threatened by phone several times and placed under surveillance by the 'Kadyrovtsy'. He feared he could be abducted and tortured by the latter and asked the Polish authorities for protection. He was unable to access effective international protection in Poland, which triggered his flight to France.“ (ECRE, 8. März 2011, S. 34)
Die internationale katholische Organisation der Friedensbewegung Pax Christi in Flandern schreibt in einem im Dezember 2011 veröffentlichten Bericht, der auf derselben Fact-Finding-Mission nach Polen im September 2010 beruht wie der Bericht des Belgian Refugee Council, dass viele tschetschenische AsylwerberInnen in Belgien glauben würden, dass es eine enge Zusammenarbeit zwischen polnischen Asylbehörden und den russischen Behörden, darunter auch die tschetschenischen Behörden in Grosny, gebe. Es gebe sogar Berichte über Personen, die für Ramsan Kadyrow arbeiten und tschetschenische AsylwerberInnen in Polen bedrohen würden.
Die tschetschenischen AsylwerberInnen seien überzeugt davon, dass sich Personen, die für Ramsan Kadyrow arbeiten würden, frei in Polen bewegen könnten, ihre Widersacher per Telefon oder direkt bedrohen und verprügeln würden und Informationen von ihnen erpressen würden, ohne dass die polnischen Behörden reagieren würden. Zudem sei behauptet worden, dass es Treffen zwischen der Ausländerbehörde (UdSC) und Vertretern von Kadyrow gegeben habe, und dass die polnische Seite angeboten habe, Kadyrow bei der Suche nach bestimmten Personen zu unterstützen. Die polnischen Behörden würden derartige Bedrohungen und die Anwesenheit sogenannter Kadyrowzy herunterspielen oder dementieren.
Bei der Suche nach bereits veröffentlichten Materialien sei aufgefallen, dass kaum etwas schriftlich festgehalten sei, obwohl unter anderem RechtsvertreterInnen, AnwältInnen und MitarbeiterInnen von NGOs in verschiedenen EU-Ländern auf ähnliche Schilderungen während ihrer Arbeit mit tschetschenischen AsylwerberInnen gestoßen seien. Keiner der Asylwerber könne beweisen, was er gesehen und gehört habe, da es keine Zeugen und keine Audio- und Video-Aufzeichnungen gegeben habe. Dennoch seien viele AsylwerberInnen überzeugt davon, dass die polnischen Asylbehörden mit Kadyrow kooperieren würden, um dessen politische Widersacher in Polen zu verfolgen. Es sei von regelmäßigen Kontakten mit Vertretern von Kadyrow in Warschau und von der ständigen Anwesenheit eines Vertreters von Kadyrow berichtet worden, was die Ausländerbehörde jedoch strikt dementiert habe:
„Many of these asylum seekers come to Belgium with complaints about the low recognition rate according to the 1951 Geneva Convention, complaints about poor medical and public aid, about racism and the lack of respect from Polish officials and Polish society, and with complaints about safety. Most Chechen asylum seekers believe there is a close cooperation between the Polish asylum bodies and the Russian authorities (including Chechen authorities of Grozny). There are even records of people working for Ramzan Kaydrov (the current ‘president’ of the Chechen Republic) actually threatening Chechen asylum seekers on Polish territory. […]
1. Threats by Chechen secret services (so-called Kadyrovtsy)
This topic is very controversial: on the one hand Chechen asylum seekers tell with the greatest conviction that people working for Ramzan Kadyrov travel freely in Poland, threaten their adversaries either by phone or in real life contact, beat their victims or extort information from them; this without any reaction from the Polish authorities.. Further allegations state that meetings have taken place between staff of the Office for Foreigners and representatives of Kadyrov, and that the Polish side has offered all help necessary to find the people Kadyrov is looking for. On the other hand, the Polish authorities, whether at the Office for Foreigners or in the person of centre directors deny or minimalise these threats and the presence of so-called ‘kadyrovtsy’. […]
When researching published material on this issue, we noticed that very little has been written down so far, although legal advisers, social assistants, lawyers and staff members of different NGO’s in various EU countries have heard equal testimonies during their work with Chechen asylum seekers. But very often the reported threats are phrased as ‘I got a phone call from Grozny’, ‘a Chechen man approached me near the bus stop’, or ‘I saw people with black uniforms, surely Chechens, in Warsaw’. None of the asylum seekers can actually prove what he heard or saw, as there were no witnesses (or if there were, they did not ask for their statements), nor audio or video recordings.
Many asylum seekers are nevertheless convinced that Polish asylum authorities co-operate with the Kadyrov regime to track political adversaries in Poland. They told us that there are regular contacts with Kadyorv’s representatives in Warsaw; we even heard that there is a permanent presence of a Kadyrov representative. The UdSC [Office for Foreigners] has denied us firmly that this is the case. The representative is known as Magomed Yusupov, and he is mentioned as such in an article on the return of several Chechen asylum seekers from Poland to Chechnya on the website todayinchechnya.wordpress.com, a pro-Kadyrov website.“ (Pax Christi, Dezember 2011, S. 2-9)
Der Bericht von Pax Christi enthält auch einige konkrete Beispiele zu Fällen von TschetschenInnen, die in Polen bedroht wurden oder sich bedroht fühlten.
Borderline Europe, ein Verein, der sich gegen eine europäische Abschottungspolitik ausspricht, schreibt in einem im November 2013 veröffentlichten Bericht zu Rückführungen im Rahmen von Dublin II nach Polen Folgendes zu TschetschenInnen in Polen:
„4.2.3 Situation der Tschetschen_innen
Offensichtlich fühlen sich viele Tschetschen_innen in Polen bedroht, die Szenarien reichen von Angst vor Gewalt bis hin zu Tötungen durch Gefolgsleute Kadyrows. Es gibt allerdings kaum ausreichend dokumentierte Fälle. Da laut Aussage von NGOs Tschetschenien offiziell in Polen nicht mehr als Kriegsgebiet anerkannt ist, ist es für Geflüchtete schwer, die Bedrohung ihres Lebens nachzuweisen und so Asylgründe geltend zu machen. Obwohl zu dem Thema selbst bei NGOs recht wenig Wissen vorliegt, scheint es sehr wahrscheinlich, dass auch Anhänger Kadyrows nach Polen migrieren oder zu Geflüchteten Kontakt halten. Dies ist äußerlich nicht erkennbar und erzeugt neben der realen noch eine generalisierte Angst. Geflüchtete haben Sorge, mit anderen zu sprechen, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, Angst, jemand könnte Informationen weitergeben. Hinzu kommt die Bedrohung durch die nahe Grenze, eine Abschiebung nach Tschetschenien bzw. Russland wiegt hier weitaus schwerer als eine Dublin II-Rückführung in ein weiteres europäisches Land. Diese Fälle sollten von den Behörden untersucht und in Europa ernst genommen werden.“ (Borderline Europe, 4. November 2013, S. 19-20)
 
 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 22. November 2013)