Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: 1) Lage von Personen, die im Ausland, insbesondere Europa, einen Asylantrag gestellt haben und in die Russische Föderation zurückkehren; 2) Was ist in den beiden Fällen der Tschetschenen geschehen, die Ende 2012 zurücküberstellt wurden [a-8327]

14. März 2013
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1) Lage von Personen, die im Ausland, insbesondere Europa, einen Asylantrag gestellt haben und in die Russische Föderation zurückkehren
Das Danish Immigration Service (DIS) schreibt im Oktober 2011 in einem Bericht zu einer Fact-Finding-Mission nach Moskau und Sankt Petersburg vom 12. bis 29. Juni 2011, dass Swetlana Gannuschkina vom Komitee Bürgerbeteiligung (CAC) und Oleg Orlow von Memorial RückkehrerInnen aus dem Ausland zu den Risikogruppen zählen würden, die Gefahr laufen würden, Opfer von Folter, Verschwindenlassen, Entführung und außergerichtlicher Tötung zu werden. Es gebe Berichte, dass RückkehrerInnen von den Strafverfolgungsbehörden erpresst würden und dass sie entführt würden, um Lösegeld zu erpressen. Außerdem bestehe die Gefahr, dass RückkehrerInnen verdächtigt würden, über Informationen in Bezug auf kadyrow-kritische Personen in der tschetschenischen Diaspora im Westen zu verfügen, weshalb viele RückkehrerInnen bei ihrer Ankunft in Tschetschenien verhört würden. Jeder, der nach Tschetschenien zurückkehre, müsse sich auf die Seite der Regierung und hinter die Politik Kadyrows stellen. Es gebe Beispiele dafür, dass Personen, die zurückkehren, gefoltert würden, um Informationen über die TschetschenInnen zu erhalten, die im Ausland geblieben seien. TschetschenInnen im Ausland hätten von einigen wenigen Fällen berichtet, in denen tschetschenische RückkehrerInnen getötet worden seien:
„Svetlana Gannushkina, Memorial and CAC, and Oleg Orlov, Memorial, identified a number of groups of persons whom Memorial and CAC would consider in risk of being exposed to torture, disappearances, kidnappings and extrajudicial killings by Chechen security forces and other law enforcement agencies in Chechnya. […]
Returnees from abroad. There are reports that persons returning from abroad are stopped by law enforcement officials who request money from them, and there are reports of returnees being kidnapped for ransom. The level of corruption in Chechnya has reached unbelievable proportions. Furthermore, returnees risk being suspected of holding information about anti-Kadyrov elements of the Chechen Diaspora in Western European countries and many returnees are interrogated upon return to Chechnya. Any returnee would have to explicitly unite with the government and policies of Kadyrov. Explaining why some Chechens return voluntarily to Chechnya, it was stated that Kadyrov has sent loyal persons to western European countries to spread misinformation about the situation in Chechnya. In addition, relatives of potential returnees are afraid of reprisals from the Chechen authorities if they were to inform the returnee that the real situation in Chechnya is not in accordance with the official version. Finally, it was stated that there are examples of torture of returnees with a view to obtain information about those who stayed abroad. Chechens abroad informed about a few cases of killings of returnees.“ (DIS, 11. Oktober 2011, S. 56)
Auf der russischen Website Ino TV, die unter anderem Beiträge ausländischer Fernsehsender über Russland mit russischer Übersetzung zur Verfügung stellt, findet sich ein Ausschnitt aus der österreichischen Nachrichtensendung Zeit im Bild (ZIB) 24 vom 23. Februar 2013 über die Abschiebung einer tschetschenischen Familie aus Österreich nach Russland. Laut dem Beitrag drohe der Familie in Tschetschenien Gefahr für Leib und Leben, in den anderen Regionen Russlands Gefahr und Korruption. In dem Beitrag kommt Swetlana Gannuschkina von der russischen Menschenrechtsorganisation Komitee Bürgerbeteiligung zu Wort. Ihrer Aussage nach würden alle denken, dass ein Mensch, der aus dem Ausland zurückkehre, Geld habe. Die Behörden würden dann beginnen, diese Personen zu erpressen. Besonders gefährlich sei die Situation in Tschetschenien für Frauen, die leben wollten wie im Westen. In Tschetschenien gebe es Zwangsehen und es müssten Kopftücher getragen werden. Die Frau gelte als Eigentum des Mannes. (Ino TV, 23. Februar 2013)
 
Der russische staatliche Fernsehsender Perwyj kanal (deutsch: erster Kanal) berichtet im Jänner 2013, dass 27 Flüchtlingsfamilien, die in den 1990er Jahren vor dem Krieg in Tschetschenien in die Türkei geflohen seien, bei ihrer Rückkehr nach Grosny Wohnungen erhalten hätten (Perwyj kanal, 29. Jänner 2013).
 
Das russische Nachrichtenportal PublicPost veröffentlicht im Februar 2013 einen Artikel, in dem über die bevorstehende Abschiebung von TschetschenInnen aus Österreich nach Russland informiert wird. Auch in diesem Artikel wird Swetlana Gannuschkina zitiert, laut der man in Österreich und anderen europäischen Ländern davon ausgehe, dass die Lage in Tschetschenien vergleichsweise ruhig sei. Daher sei es für Flüchtlinge in den letzten Jahren sehr schwierig, den Flüchtlingsstatus zu erhalten. 2012 habe Norwegen Dutzende tschetschenische Flüchtlinge abgeschoben. Sie, Swetlana Gannuschkina, und ihre Mitarbeiter hätten nicht die Schicksale aller nachverfolgen können. Aber eine der abgeschobenen Personen sei unter sehr merkwürdigen Umständen ums Leben gekommen:
„В Австрии и в других европейских странах считают, что обстановка в Чечне сравнительно спокойная, и поэтому беженцам последних лет будет очень сложно получить убежище, рассказала PublicPost Ганнушкина: ‚В прошлом году Норвегия выслала из страны десятки чеченских беженцев. Проследить судьбу всех чеченцев мы не смогли. Но, например, один из них погиб при очень странных обстоятельствах. Те, которых высылают, это люди, еще не получившие статус беженца, которые бежали из Чечни совсем недавно. И очень печально, что Австрия высылает людей, поверив словам чеченских чиновников‘.“ (PublicPost, 21. Februar 2013)
Auf der Homepage der russischen Menschenrechtsorganisation Komitee Bürgerbeteiligung wird im Februar 2013 über die Abschiebung von zehn TschetschenInnen aus Österreich nach Russland berichtet. MenschenrechtsaktivistInnen hätten das Komitee Bürgerbeteiligung gebeten, zu überwachen, ob sie an der Grenze verhaftet würden, wie das bereits geschehen sei. Dieses Mal sei niemand verhaftet worden. Die Menschen würden vor dem totalitären Regime aus Tschetschenien fliehen, wegen der Entführungen und Folterungen, wegen der Gewalt gegenüber Frauen und der Ehrenmorde. In anderen Regionen Russlands würden TschetschenInnen zu Opfern von konstruierten Anklagen, von Ausländerfeindlichkeit und Vorurteilen, weshalb sie das Land verlassen würden:
„В четверг 21 февраля 2013г. из Австрии были депортированы десять чеченцев – лиц ищущих убежища. Наши коллеги – правозащитники заранее сообщили нам в Комитет ‚Гражданское содействие‘ об этой депортации и просили встретить высылаемых, чтобы мы проследили, не задержат ли их на границе, как это уже случалось.
Молодые члены нашего Комитета встречали рейс с табличками ‚Гражданское содействие‘ и ‚Мемориал‘. На этот раз никого не задержали, но родственники встретили только одного человека, еще двое разъехались по московским друзьям. Остальным семерым высланным ночевать было негде, их повезли кормить и укладывать спать в наш офис – туда же, где в ожидании отправки в центр временного размещения в Пермской области уже месяц живут 16 беженцев из Египта, Судана, Ирака. […]
Почему чеченцы уезжают из России написано и сказано немало в докладах общественных организаций: сначала ковровые бомбардировки, зачистки, бессудные убийства, пытки гнали людей из Чечни. Сейчас они уезжают от тоталитарного режима и всепоглощающего страха, от похищений и пыток, от насилия над женщинами, убийств чести, от заговора молчания. Уезжают потому, что в других регионах России чеченцы становятся жертвами фальсификации уголовных обвинений, ксенофобии и предрассудков.“ (Komitee Bürgerbeteiligung, 25. Februar 2013)
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) berichtet im September 2012 Folgendes zur Lage von nach Tschetschenien zurückkehrenden Personen und beruft sich dabei unter anderem auf eine tschetschenische Menschenrechtsaktivistin, die inzwischen in die Schweiz geflüchtet ist, deren Name nicht genannt wird:
„In Tschetschenien werden aus dem Ausland Zurückkehrende in der Regel sofort verhaftet, befragt und möglicherweise gefoltert. Wenn sie wieder freigelassen werden, gehen die Befragungen weiter: ‚Was hast du im Ausland gemacht, wen hast du getroffen, was hast du gesagt, weshalb bist du gegangen, womit warst du hier nicht zufrieden?‘ Den gleichen Fragen sind auch die Angehörigen der Geflohenen ausgesetzt. Auch sie müssen ständig mit Verhaftung und Misshandlung rechnen. Gegen Einzelne werden sogar Strafverfahren konstruiert, wie beispielsweise gegen Zubair Zubairajew: Er kehrte aus Österreich nach Tschetschenien zurück, nachdem ihm von Mittelsmännern absolute Sicherheit garantiert worden war. Memorial berichtet, er sei inzwischen im Gefängnis und werde gefoltert, um ihn dafür zu bestrafen, dass er es gewagt habe, sich zu beklagen.“ (SFH, 12. September 2011, S. 19)
Amnesty International (AI) veröffentlicht auf seiner Website ein Asyl-Gutachten vom Februar 2012 zur Anfrage des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt zur Rückkehrgefährdung eines russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Darin finden sich folgende Informationen:
„Darüber hinaus gibt es Personen, die bei ihrer Rückkehr nach Tschetschenien oder in andere Teile der Russischen Föderation einem besonderen Risiko ausgesetzt sind, politisch verfolgt zu werden. Solche Risiken können unter anderem unrechtmäßige Inhaftierungen, Folter und andere Misshandlungen, ‚Verschwindenlassen‘, extralegale Hinrichtungen sowie weitere schwere Menschenrechtsverletzungen umfassen. Zu den gefährdeten Personengruppen gehören mutmaßliche Mitglieder bewaffneter Gruppen, Personen die in der Vergangenheit von staatlichen Behörden – vermeintlich oder tatsächlich – als Mitglieder bewaffneter Gruppen angesehen wurden sowie Mitglieder von Gemeinschaften und Gruppen, die sich zu weniger ‚konventionellen‘ und eher ‚fundamentalistischen‘ Formen des Islams bekennen. Darüber hinaus liegen unserer Organisation Berichte über Menschenrechtsverletzungen an Personen mit abweichenden politischen Meinungen, kritischen Journalisten oder anderen Oppositionellen und Kritikern des tschetschenischen oder anderen nordkauskasischen Regimes, Menschenrechtsverteidigern oder in vielen Fällen auch deren Familienangehörigen vor. Amnesty International möchte darauf hinweisen, dass keine der genannten Risikokategorien als abschließend betrachtet werden kann.“ (AI, 27. Februar 2012, S. 2)
Die österreichische Tageszeitung Die Presse veröffentlicht im Juni 2012 in Die Presse am Sonntag einen Artikel, in dem über ehemalige AsylwerberInnen in Grosny berichtet wird:
„Immer mehr Tschetschenen kehren freiwillig aus Österreich in ihre Heimat zurück. ‚Die Presse am Sonntag‘ hat ehemalige Asylwerber in Grosny getroffen - darunter auch Menschen, die ihre Entscheidung bitter bereuen. [… ] Als sie das Warten mehr zermürbte als die Angst, sind sie zurückgekehrt. […] Malika M. sitzt auf dem Sofa in einer kühlen Erdgeschoßwohnung. […] Doch damals in der österreichischen Provinz waren die Kleinkinder noch Babys. Erinnerungen an den Alltag im südlichen Niederösterreich sind ihnen keine geblieben. Malika M. schon. Sicher war es in Österreich. Die Geschäfte hatten große Glasfronten, keine vergitterten Fenster wie hier. In Sicherheit waren sie dort auch wegen „verschiedener Probleme“, über die sie nicht sprechen dürfe. Für die Kinder gab es Perspektiven. Hier sei alles rückständig, wegen der Kriege.
Im Vorjahr stellten noch 2314 ein Asylgesuch, doch die Anerkennungsquote ist von einst hohen 94 auf 31 Prozent gesunken. Gestiegen ist die Zahl derjenigen, die eine freiwillige Rückkehr wagen. 2011 waren es 528, die nach einer Rückkehrberatung und mit einem vom Innenministerium bezahlten Flugticket in die Russische Föderation zurückgekehrt sind; Menschen, die auf eigene Kosten zurückkehren, sind hier nicht eingerechnet. Die Motive der Heimkehrer sind unterschiedlich: weil das Asylverfahren aussichtslos ist bzw. eine Abschiebung droht, weil die Kinder in einer tschetschenischen Umgebung aufwachsen sollen, weil sich die Sicherheitslage vor allem im Flachland gebessert hat. Anschläge und Entführungen sind selten geworden, Republikspräsident Ramsan Kadyrow hält die Rebellen, die in den Bergen ausharren, in Schach. […]
Isa Chadschimuradow ist viel unterwegs. Unlängst war er auf Visite in Tschechien und Deutschland, Treffen mit Diasporavertretern standen auf dem Programm. Auch die Idee von aus Republiksgeldern geförderten Kulturzentren in Ländern mit großer Exilgemeinde, darunter Österreich, verfolgt man weiter. […] Dem Leiter der Außenabteilung obliegt die Aufgabe, Tschetscheniens Beziehungen zur Welt zu verbessern. Eine schwierige Aufgabe, nicht weil sein Boss in vielen Ländern eine Persona non grata sei, so Chadschimuradow, der Kadyrow als ‚unkonventionellen‘ Politiker preist. Schwierig vor allem deshalb, weil die tschetschenischen Flüchtlinge in Europa so viel ‚Falschinformationen‘ über die kleine Republik verbreiteten: ‚Das ist für sie ja die einzige Möglichkeit, damit ihr sie aufnehmt.‘ […]
Der 37-jährige Riswan W. wurde nach seiner freiwilligen Rückkehr aus Österreich verhaftet. In Österreich hatten er und seine Frau Salina kein Asyl bekommen. Die Rückkehr der Jungfamilie wurde sogar vom Wiener Büro der Internationalen Organisation für Migration (IOM) unterstützt, die ihrerseits vom Wiener Innenministerium gefördert wird. Die Familie erhielt nicht nur ein kostenloses Flugticket nach Südrussland, sondern auch materielle Einstiegshilfe. Im August 2011, fünf Monate nach der Ankunft in Grosny, umstellten Spezialeinheiten frühmorgens das Haus der Familie. Seitdem sitzt W. in Untersuchungshaft. Ihm wird ‚Teilnahme am bewaffneten Aufstand‘ zur Last gelegt, Strafrahmen: 15 bis 20 Jahre. Schon länger verdächtigten ihn die Behörden, 1999 beim sogenannten ‚Einfall in Dagestan‘ unter dem Kommando von Rebellenführer Schamil Bassajew mitgewirkt zu haben. […] W. bestreitet nicht, am Ort des Geschehens gewesen zu sein – er will jedoch nicht beteiligt gewesen sein. […] 2007 wurde W. verhaftet, 2008 der Prozess gegen ihn eingestellt. Die Mörder der Soldaten, erkennbar auf dem Video, saßen bereits hinter Gittern. 2009 lernte Riswan W. seine Frau Salina kennen, 2010 überredete er sie zur Flucht nach Österreich. […] ‚Er wäre doch nicht freiwillig aus Österreich zurückgekehrt, wenn er ein Verbrechen begangen hätte‘, sagt sein Anwalt. ‚Er wurde nur für das Schönen der Statistik verhaftet.‘ Noch ist über Schuld oder Unschuld nicht entschieden. Doch der Fall Riswan W. wirft Fragen auf: Ist die freiwillige Rückkehr nach Tschetschenien heikler als gedacht? Und wer trägt die Verantwortung für den Heimflug ins Ungewisse?
Für die österreichischen Behörden ist der Fall abgeschlossen, sobald die Tschetschenen im Flugzeug sitzen. Für die Rückkehrberatung ebenso. ‚Im Beratungsgespräch weisen wir den Rückkehrer auf mögliche Risken hin‘, sagt Karin Knogl von der Caritas-Rückkehrhilfe, die W. beraten hat. ‚Die Entscheidung trifft der Klient.‘ Im IOM-Büro in Wien weiß man nichts über W.s Schicksal. Die Rückkehrer werden in der Heimat maximal ein Jahr betreut, so wollen es die Geldgeber, also das Innenministerium und der EU-Rückkehrfonds. Bei der Reintegration stünden sozioökonomische Fragen im Vordergrund, nicht die Menschenrechtsthematik, sagt Projektleiterin Andrea Götzelmann. ‚Die Sicherheitslage zu ergründen ist nicht Ziel des Projekts. Aber Menschenrechtsverletzungen sind uns in unseren Fällen nicht bekannt.‘ Die Letztverantwortung trügen die Rückkehrer. Doch offenbar ist die Sicherheitslage für sie aus der Ferne schwer einschätzbar. […]
In der luftigen Höhe des Hochhauses in Grosny City will man von Risken nichts wissen. ‚Wenn die Leute ruhig und leise zurückkehren, gibt es keine Probleme‘, sagt Isa Chadschimuradow. ‚In den Ämtern arbeiten heute viele, die einmal auf der anderen Seite standen.‘ Ein Menschenrechtsaktivist in Grosny – er will namentlich nicht genannt werden – vertraut den Worten nicht. ‚Probleme von früher lösen sich nicht in Luft auf. Wenn einer einmal verdächtigt wurde, gerät er nach der Rückkehr wieder ins Visier der Behörden.‘
Der ‚Presse am Sonntag‘ sind zwei weitere besorgniserregende Fälle junger Männer bekannt. In einem Café in Grosny erzählt ein 26-jähriger Rückkehrer aus Österreich, er werde ‚zwei-, dreimal in der Woche‘ angerufen, er solle endlich der Mitarbeit beim Geheimdienst zustimmen. Er ist nervös, verschüchtert. Unter Zwang musste er ein Papier unterschreiben, nun fürchtet er, dass es das Geständnis einer Straftat war, die er nicht begangen hat. Ein Druckmittel für die Zukunft, einlösbar, wann immer es dem Gegenüber passt. ‚Ich kann hier nicht leben‘, sagt er. Sein Freund, ein Rückkehrer aus Norwegen, sollte Namen politischer Opponenten im Exil preisgeben. Bleiben sie in der Republik, gibt es für sie zwei Optionen: Sie werden Informanten oder tauchen ‚in den Wald‘ zu den Kämpfern ab. Die fragwürdigen Methoden der Sicherheitskräfte lassen junge Männer häufig Letzteres wählen. Es scheint, als würden die Behörden sich ihre eigenen Feinde schaffen. […]
Eine Woche nach dem Treffen in Grosny schickt Malika M. ein E-Mail. Aus ihren Worten spricht Besorgnis. Die Zusicherung, dass ihr richtiger Name im Artikel nicht genannt wird, beruhigt sie. Dann erzählt sie den Teil ihrer Geschichte, den sie beim ersten Treffen verschwiegen hat. ‚Die tschetschenischen Behörden beschuldigten meinen Ehemann, mit den Rebellen unter einer Decke zu stecken. Das stimmt aber nicht.‘ Malika M. und ihr Mann kehrten erst heim, nachdem Verwandte einigen Leuten Geld gaben, die dafür sorgten, dass er in Ruhe gelassen würde. Passiert ist bisher nichts, doch Malika M. hat Angst. Angst, dass jemand vor der Tür steht, so wie die Journalistin, und fragt, warum sie und ihr Mann eigentlich in Österreich waren. ‚In Wirklichkeit ist das Leben hier gefährlich. Man weiß nie, was die Behörden mit uns vorhaben. Korruption ist überall, Gesetze zählen nichts.‘ Sie bereue, dass sie zurückgekehrt sei, schreibt Malika. Am liebsten würde sie der wiederaufgebauten Republik den Rücken kehren.“ (Die Presse, 30. Juni 2012)
In den Salzburger Nachrichten findet sich ein Kolumnen-Beitrag der Journalistin Susanne Scholl vom April 2012, in dem sie Folgendes schreibt:
„Mag ja sein, dass die verschiedenen quasi offiziellen österreichischen Delegationen, die in der letzter Zeit Tschetschenien besucht haben, dort nur Positives zu sehen bekamen. Das ist sogar mehr als wahrscheinlich. Schließlich weiß Moskaus Stadthalter Ramsan Kadyrow, was er westlichen Besuchern vorführen muss: Neubauten, gutes Essen und Volkstanzgruppen. Seine bewaffnete Garde wird sich bei solchen Besuchen sicher von ihrer besten Seite zeigen - und diskret im Hintergrund halten. Die tschetschenische Realität sieht allerdings anders aus.
Vor wenigen Tagen wurden in Moskau mehrere schwerbewaffnete Mitglieder der Kadyrow-Garde unter dem Verdacht festgenommen, einen Mann entführt zu haben. Erstaunlich daran ist vor allem die Tatsache, dass die Kadyrow-Männer festgenommen wurden. Denn eigentlich haben sie freie Hand - meistens sogar in Moskau. In Tschetschenien ohnehin.
Herr Gereew hatte sich auf die Seite der Untergrundkämpfer gestellt. Deshalb wurde er gesucht, musste sich monatelang verstecken und schließlich sein Land verlassen. […]
Und trotzdem haben die österreichischen Behörden beschlossen, ihn und seine Familie nach Tschetschenien zurückzuschicken. Herr Gereew hat daraufhin einen Selbstmordversuch unternommen. Viele, denen das gleiche vor ihm widerfahren ist, sind nach ihrer unfreiwilligen Rückkehr verschleppt und ermordet worden. Abrechnungen mit einstigen Feinden sind an der Tagesordnung.“ (Salzburger Nachrichten, 17. April 2012)
Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) berichtet im März 2011, dass Swetlana Gannuschkina von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial der Rundfunkanstalt gegenüber geäußert habe, dass zu viele tschetschenische AsylwerberInnen in ihre Heimat zurückgeschickt würden, wo ihnen Verfolgung drohe. Ihrer Aussage zufolge seien Folter, Entführungen und Fälle von Verschwindenlassen unter der Herrschaft von Ramsan Kadyrow weiterhin die Regel. Jeder, der sich nicht dem System unterordne, könne bedroht sein. In der totalitären tschetschenischen Gesellschaft sei es vor allem für diejenigen schwer, die bereits lange in Europa gelebt hätten. Sie persönlich kenne Personen, die zurückgekehrt seien und ihre Häuser nicht verlassen würden. Sie könne allerdings die Namen dieser Personen nicht nennen, weil diese dadurch in Gefahr geraten würden:
„In an interview with RFE/RL, Gannushkina, a leading member of the rights group Memorial, said Chechen asylum seekers face an unforgiving bureaucratic environment in the EU. And far too many, she says, are being forced to return home, where they face persecution. […]
Critics say that in recent years, Poland has decided to send an increasing number of Chechen asylum seekers home, arguing that the danger for them there has subsided considerably.
Gannushkina disputes this logic, noting that torture, kidnapping, and disappearances remain the norm in Chechnya under the region's authoritarian leader, Ramzan Kadyrov.
‘This is the situation in Chechnya: Anyone can be threatened if they don't obey the system,’ she says. ‘This totalitarian society is very difficult for those who have been living in Europe a long time already, especially for young people. For someone who went away at the age of 12, to come back to this situation is, honestly speaking, impossible.’
‘I know people who returned and simply don't come out of their houses. But again, unfortunately, I cannot tell you their names, because they don't approach us officially. They do that only when they are back in Europe and ask for support. If I would tell you these names today, they would be in danger.’” (RFE/RL, 8. März 2011)
Auf der Website der russischen Menschenrechtsorganisation Komitee Bürgerbeteiligung findet sich ein Brief von Swetlana Gannuschkina vom Juni 2010 an Michael Kocáb, den damaligen Minister für Menschenrechte und Minderheiten in der Tschechischen Republik, in dem sie erläutert, dass Personen, die lange Zeit in Europa gelebt hätten und nach Tschetschenien zurückkehren würden, genau von den Behörden beobachtet würden. Dies würde auch damit zusammenhängen, dass man die rückkehrenden TschetschenInnen verdächtigen würde, sie seien im Exil mit den Anführern der Republik Itschkeria in Kontakt gestanden, hätten sie unterstützt oder mit ihnen sympathisiert. Zurückkehrende TschetschenInnen müssten beim Geheimdienst und dem Innenministerium erscheinen. Dort würde man sie befragen und sie zur Zusammenarbeit auffordern. Bei den Befragungen würden die RückkehrerInnen oft schwer geschlagen und ihre Familien würden bedroht. Es bestünde zudem die Möglichkeit, dass die RückkehrerInnen regelmäßig derartigen Befragungen unterzogen würden, bei denen sie geschlagen würden und während der man große Geldsummen von ihnen erpressen würde:
„В ответ на Ваш вопрос о том, какая судьба ожидает гражданина России - этнического чеченца, длительное время проживавшего в Европе, в случае, если он будет депортирован в Россию, имею честь высказать свое мнение.
Все чеченцы, возвращающиеся из-за рубежа, оказываются под пристальным вниманием властей. Это внимание связано с несколькими факторами:
- подозрение в том, что возвратившийся на самом деле находился в незаконных вооруженных формированиях;
- подозрение в том, что возвратившийся был в эмиграции связан с руководителями ЧРИ (Ичкерии) или поддерживал НВФ материально, или просто сочувствует им;
- предположение, что у приехавшего есть деньги, которые можно отобрать, что и делается с легкостью;
- резко отрицательное отношение к тем, кто не прожил вместе с Чечней период войны и восстановления. […]
Приехавших вызывают в органы ФСБ и МВД, где допрашивают и требуют сотрудничества. Часто эти допросы сопровождаются жестоким избиением, угрозами семье и т.п. Одним допросом дело не ограничивается, вызовы могут происходить регулярно, сопровождаясь избиениями и вымогательством больших денежных сумм.“ (Komitee Bürgerbeteiligung, Juni 2010)
2) Was ist in den beiden Fällen der Tschetschenen geschehen, die Ende 2012 zurücküberstellt wurden
Der Standard berichtet am 6. Dezember 2012 Folgendes zu einem abgeschobenen Tschetschenen, der nach der Landung in Moskau festgenommen wurde:
„Im Fall des von Wien nach Moskau abgeschobenen Tschetschenen Rasambek I., der dort nach der Landung festgenommen wurde, bemühen sich jetzt österreichische Stellen um Aufklärung der Umstände, die zur Inhaftierung geführt haben. […]
Kontaktiert wurde die Botschaft von dem für I. zuständigen Richter am Asylgerichtshof (AGH), der das Schutzbegehren des 47-Jährigen 2009 rechtskräftig abgelehnt hat: Dass I. politisch verfolgt und gefoltert worden sei, glaubte er ihm nicht. Im Fall I. sei eine ‚nicht befriedigende Situation‘ entstanden, sagte AGH-Präsident Harald Perl bei einem Hintergrundgespräch. Weder der AGH, ‚und wohl auch die Fremdenpolizei nicht‘, hätten von dem im Jänner 2012 gegen I. ausgesprochenen westsibirischen Haftbefehl wegen KFZ-Diebstahls gewusst.
In Wien sucht die Polizei indes nach den beiden volljährigen Töchtern I.' s, die mit nach Moskau hätten abgeschoben werden sollen, aber nicht daheim waren, als die Polizei kam. Taisa, 20, und Karina, 19, trauten sich nicht in ihre Wohnung zurück und stünden ohne jedes Geld da, schildert der Rechtsvertreter der Familie, Tim Außerhuber. Auch I.'s mit abgeschobener Ehefrau und zwei minderjährigen Töchtern gehe es schlecht. Sie seien nach Tschetschenien zurückgekehrt, doch fänden keinen Unterschlupf: ‚Die Polizei bedrängt die Verwandten.‘“ (Der Standard, 6. Dezember 2012)
Am 10. Dezember 2012 berichtet Der Standard Folgendes zu einem weiteren abgeschobenen Tschetschenen:
„In Russland werde er verfolgt, ihm drohe der Tod. Immer wieder hatte der tschetschenische Asylwerber Danial M. die österreichischen Behörden darauf hingewiesen, dass er in Russland nicht sicher sei, weil er Aufständischen geholfen habe. Der Asylgerichtshof lehnte vier Asylanträge ab.
Keine zwei Wochen nach seiner Abschiebung per Charterflug aus Wien wurde der 35-jährige Mann verhaftet. Er befindet sich in einem Gefängnis des Geheimdiensts FSB in Grosny. ‚Danial wurde vor drei Tagen festgenommen, als er die Grenze zur Ukraine überschreiten wollte‘, berichtet sein Bruder Abas M. Man werfe Danial M. zwei ‚terroristische Attacken‘ mit etwa 30 Toten vor, sagte Abas M. zum Standard. […]
Menschenrechtsaktivisten berichten, dass im Falle von Tschetschenen, die sich gegen Präsident Ramsam Kadyrow gestellt haben, strafrechtliche Vorwürfe häufig als Vorwand für politische Nachstellungen verwendet werden.
Für seine Familie weiter unauffindbar ist Rasambek I., jener Tschetschene, der am Moskauer Flughafen direkt aus dem Abschiebeflugzeug (in dem sich auch M. befand) von der russischen Polizei festgenommen wurde. Ihm wird ein Autodiebstahl vorgeworfen. Die Frau und ihre beiden minderjährigen Töchter befänden sich in einer verzweifelten Lage, berichtet die langjährige ORF-Korrespondentin und Autorin Susanne Scholl. Die Frauen hätten weder Unterkunft noch Papiere, die trage der verschollene Mann bei sich.“ (Der Standard, 10. Dezember 2012)
Die Journalistin Susanne Scholl veröffentlicht am 11. Dezember 2012 einen Kolumnen-Beitrag in den Salzburger Nachrichten, in dem sie Folgendes schreibt:
„Zwei Ereignisse kurz hintereinander. Am 28. November wird die Familie I. - Vater, Mutter und zwei minderjährige Töchter - aus Österreich nach Russland abgeschoben. Es sind Tschetschenen, der Vater hat den gegen Russland kämpfenden Präsidenten Maschadow unterstützt - und wurde deshalb mehrmals misshandelt, festgenommen und gefoltert. Die österreichischen Behörden sehen trotzdem keinen Grund, ihn nicht nach Tschetschenien zurückzuschicken. Der Mann wird nach der Landung in Moskau sofort festgenommen. Seither fehlt von ihm jede Spur, seine Frau hat keinen Kontakt zu ihm und keine Möglichkeit, in Tschetschenien eine Wohnung, Arbeit und eine Schule für die Kinder zu finden.
Wenige Tage später wird Herr M. nach Russland zurückgeschickt. Es gelingt ihm zunächst, sich zu verstecken, aber nach wenigen Tagen wird auch er verhaftet und in ein Gefängnis nach Grosny gebracht - weil er Verbindungen zu Untergrundkämpfern hatte und vor Gericht gestellt werden soll. […]
Das System Putin hat immer schon darauf gesetzt, potenzielle Gegner auf jede nur mögliche Art und Weise zum Schweigen zu bringen, notfalls auch für immer. Herr I. ist bei Weitem nicht der erste Zurückgeschickte, der spurlos verschwindet, Herr M. bei Weitem nicht der Erste, dem aus politischen Gründen ein Prozess gemacht wird. In Tschetschenien verschwinden täglich Menschen, ohne je wieder aufzutauchen. Täglich werden irgendwelche alte Rechnungen beglichen und ganze Familien ins Elend gestürzt, weil sich eines ihrer Mitglieder irgendwann gegen den von Moskau gestützten derzeitigen Machthaber gestellt hat. Gnade für politische Gegner gibt es nicht einmal, wenn diese Selbstkritik üben und Loyalität schwören. Deshalb sind immer noch so viele tschetschenische Flüchtlinge in Österreich. Deshalb bringt sie eine Abschiebung in Lebensgefahr.“ (Salzburger Nachrichten, 11. Dezember 2012)
Am 20. Februar 2013 erwähnt Der Standard, dass zwei Tschetschenen, die im Dezember nach der Abschiebung aus Wien in Russland festgenommen worden seien, weiter in Haft seien:
„Im Vorfeld einer am Donnerstag angesetzten Charter-Abschiebung von Wien nach Moskau fürchten die Vorarlberger Grünen, dass mehreren Tschetschenen, die außer Landes gebracht werden sollen, Gefahr drohen könne. […]
Im Dezember waren zwei Tschetschenen nach der Abschiebung aus Wien in Russland festgenommen worden, sie sind weiter in Haft.“ (Der Standard, 20. Februar 2013)
In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine aktuelleren Informationen zu den beiden in der Anfrage genannten Fällen gefunden werden.
 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 14. März 2013)