Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen über Enteignung von Häusern afghanischer StaatsbürgerInnen durch NATO, insbesondere in Kunar 2007 (Grundlage, Konsequenzen) [a-11531]

9. März 2021

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

Dieses Produkt stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

Informationen über Enteignung von Häusern afghanischer StaatsbürgerInnen durch NATO

Quellen berichten von der Übernahme und Besetzung von Häusern von Einheimischen durch NATO-Truppen in mehreren Provinzen, darunter Kunar (NYT, 8. Dezember 2020; IWPR, 16. September 2016) und Helmand (IWPR, 27. März 2012), Balch (NYT, 8. Dezember 2020) sowie in einer von der US-Armee als „South District“ bezeichneten Zone, die außer Helmand die Provinzen Badghis, Daykundi, Farah, Ghor, Herat, Kandahar, Nimroz, Uruzgan und Zabul umfasst (US Army, 17. Jänner 2013; zu Kandahar siehe auch NYT, 8. Dezember 2020).

Laut einem Artikel von IWPR aus dem Jahr 2012 hätten BewohnerInnen der Provinz Helmand berichtet, dass Angehörige der internationalen Streitkräfte private Häuser besetzt und jahrelang bewohnt und genutzt hätten. Laut einem Vertreter des Distrikts Nawzad im Provinzrat von Helmand hätten diese Truppen neben der Besetzung von Privatgrund auch umliegendes Ackerland als Landeplätze für Hubschrauber verwendet und Gebäude- und Umgrenzungsmauern niedergerissen, um Zufahrten für ihre Fahrzeuge zu schaffen.

Die Nutzung privater Häuser und Grundstücke durch Einheiten der [bis 2014 aktiven] internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (International Security Assistance Force, ISAF) der NATO wurde auch vom (damaligen) Gouverneur der Provinz Helmand sowie von der ISAF selbst bestätigt. Laut einem Sprecher der ISAF lägen keine Daten darüber vor, wie viele solcher Immobilien genutzt worden seien. Viele davon seien jedoch nur kurzfristig von US-Truppen genutzt worden.

Nach Angaben des Sprechers der ISAF zahle die NATO-Truppe als solche keine Pacht für die Nutzung von Immobilien. Jedoch hätten die einzelnen Staaten, die der ISAF Truppenkontingente zur Verfügung stellten, die Möglichkeit, bilaterale Vereinbarungen mit den Eigentümern zu treffen. So entspreche es der US-Politik, Entschädigungszahlungen für die Nutzung von Grundstücken oder Gebäuden zahlen.

Es finden sich indes mehrere Aussagen von Betroffenen, die sich darüber beklagten, dass NATO-Truppen für die Nutzung ihrer privaten Häuser keine Entschädigung gezahlt hätten. Laut einem Bewohner des Distrikts Musa Qala in der Provinz Helmand hätten ausländische Truppen ein Haus, das ihm gehöre, mehrere Jahre lang ohne jede Entschädigung genutzt. Er habe diese Soldaten mehrmals gebeten, ihm entweder Pachtzins zu zahlen oder das Grundstück zu verlassen. Diese hätten ihm jedoch jedes Mal nur geantwortet, dass sie „ihr Bestes geben“ würden (IWPR, 27. März 2012).

Ähnliche Berichte von Ortsansässigen liegen aus der Provinz Kunar (IWPR, 16. September 2016) und Balch (NYT, 8. Dezember 2020) vor.

Nach Angaben der US-Armee aus dem Jahr 2013 seien die US-Truppen dazu befugt, einheimische Immobilien als Camps zu nutzen bzw. darauf Befestigungen zu errichten. In der Operationszone „South District“ der US-Armee (siehe oben) würden Kommandeure und sogenannte „battle space owners“ bei der Aushandlung und Umsetzung von Immobilienvereinbarungen von einem kleinen Team von Immobilienexperten unter der Leitung eines Divisionschefs für Immobilienangelegenheiten, der dem US Army Corps of Engineers (Pioniercorps der US-Armee) angehöre, unterstützt. Seit seiner Einrichtung im Jahr 2009 habe das Kommando „South District“ in seiner Operationszone mehr als 574 Quadratkilometer Land für die Errichtung von rund 300 Stützpunkten, Checkpoints und anderen Anlagen aquiriert. (US Army, 17. Jänner 2013)

Die Größe der von den USA errichteten Anlagen variierte im Laufe der Jahre stark. Einige Stützpunkte waren weitläufig und beherbergten sogar eigene Restaurants von Fast-Food-Ketten. In anderen Fällen besetzten die Koalitionstruppen kurzzeitig leere afghanische Häuser und zerstörten oder veränderten Wände zu Verteidigungszwecken, bevor sie wieder abzogen.

Manchmal handelten die Amerikaner mit den örtlichen Bauern zeitlich begrenzte Pachtverträge aus, doch waren diese Vereinbarungen anfällig für Manipulation durch korrupte lokale Kriegsherren und Machthaber, die die Deals aushandelten. Bei kürzeren Aufenthalten wurden die Hauseigentümer selten entschädigt. (NYT, 8. Dezember 2020)

Wie die US-Armee einräumt, sei es bei heiklen Einsätzen manchmal nicht möglich, solche Vereinbarungen vor der tatsächlichen Nutzung der Immobilien auszuhandeln. So würden die US-Streitkräfte in manchen Fällen einheimische BewohnerInnen von ihren Grundstücken vertreiben, um rasch Feldlager und kleinere Stützpunkte zu errichten. Wenn die USA jedoch Bedarf an längerer Nutzung eines Stützpunkts hätten, würde die Division für Immobilienangelegenheiten nachträglich einen Pachtvertrag mit dem Eigentümer schließen und diesen bezahlen (US Army, 17. Jänner 2013). Laut einem vor Ort stationierten US-Immobilienspezialisten gestalte es sich indes häufig schwierig, die Eigentümerschaft zu überprüfen, da es oft an Rechtsurkunden und anderer Dokumentation fehle. (US Army, 17. Jänner 2013; vgl. auch Baczko, 8. November 2016 in Bezug auf die Provinz Kunar)

Wie die New York Times (NYT) im Dezember 2020 berichtet, wurde ein Teil der Immobilien, die von US-Truppen genutzt wurden, trotz der Reduzierung der amerikanischen Streitkräfte von 100.000 im Jahr 2011 auf aktuell weniger als 5.000 Mann nicht an die ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben, sondern an die afghanischen Sicherheitskräfte übertragen. Ungelöste Fälle von Nichtrückgabe von Land, das von den internationalen Streitkräften genutzt worden war, gebe es in mindestens einem halben Dutzend der 34 Provinzen des Landes. (NYT, 8. Dezember 2020)

Informationen über Enteignungen von Häusern durch NATO in Kunar 2007

In der Provinz Kunar, die eine Hochburg von Aufständischen darstellte (IWPR, 16. September 2016), betrieb die US-Armee nach 2001 eine harte Strategie der Jagd auf „Terroristen“ und war bis zum Rückzug im Jahr 2013 mächtigste Akteur in der Region. Der afghanischen Regierung unter dem damaligen Präsidenten Hamid Karzai gelang es nicht, ihren Einfluss über die Provinzhauptstadt Asadabad hinaus auszudehnen. So gestalteten die US-Streitkräfte, darunter insbesondere ihre Spezialeinheiten, die sozialen Beziehungen in der Provinz mittels eines Herrschaftssystems, das auf Verhandlungen und Arrangements mit Einheimischen beruhte. US-SoldatInnen beteiligten sich am Umgang mit lokalen Konflikten, die sich in Kunar, wo landschaftlich nutzbare Böden nicht nur aufgrund des gebirgigen Terrains knapp, sondern auch wenig ertragreich seien, häufig um die Kontrolle von Land drehten. Nur wenige BewohnerInnen seien im Besitz von Dokumenten, die ihr Grundeigentum sowie dessen genauen Grenzen rechtlich belegen würden. Grundstücksgrenzen seien zudem in der Landschaft nicht als solche erkennbar, weshalb man sich bei Grenzziehungen immer auf das Gedächtnis eines jeden Eigentümers verlassen müsse. Letztlich fußte das System der Grenzziehung auf der Fähigkeit, das eigene Grundstück gegen Nachbarn zu verteidigen, die beabsichtigen könnten, sich dieses (oder einen Teil davon) anzueignen (Baczko, 8. November 2016). Diese von lokalen Konflikten um Landbesitz geprägte Situation sei durch die Präsenz von US-Truppen zusätzlich belastet worden (NYT, 8. Dezember 2020).

Laut einem Artikel des Institute for War and Peace Reporting (IWPR) aus dem Jahr 2016 habe es in der Provinz Kunar seit 2001 etwa zehn Militärbasen gegeben. Diese seien zunächst von NATO-Truppen genutzt worden und nun (2016), da diese planten, demnächst das Land zu verlassen, aufgelassen oder den afghanischen Streitkräften überlassen worden.

Es wird berichtet, dass sich Ortsansässige in Kunar darüber beklagten, dass große Teile ihres Ackerlandes von Regierungs- und NATO-Truppen beschlagnahmt worden seien, um darauf Militärstützpunkte zu errichten. Dabei hätten die Eigentümer keine oder nur geringe Entschädigungszahlungen erhalten.

Laut einem Bewohner des Distrikts Wata Pur hätten ausländische Truppen sieben Jahre zuvor [d. h. etwa im Jahr 2009, Anm. ACCORD] ein Gebiet von 70.000 Quadratmetern, das zu seinem Dorf gehöre, abgezäunt, um darauf einen Militärstützpunkt zu errichten. Hierzu zählten auch 6.000 Quadratmeter an Land, das ihm gehöre. So verblieben ihm nur 2.000 Quadratmeter für seine landwirtschaftliche Nutzung. Als Entschädigung habe er von der ISAF nur einen einmaligen Betrag von umgerechnet 200 US-Dollar erhalten. (IWPR, 16. September 2016)

Laut Aussage eines weiteren Bewohners des Distrikts Wata Pur, der im Jahr 2020 von der New York Times (NYT) interviewt wurde, hätten US-Truppen ein Jahrzehnt zuvor etwa 121.400 Quadratmeter an Land, das als gemeinsames Eigentum von etwa 30 Familien genutzt wurde, für sich beansprucht, mit Stacheldraht abgezäunt und darauf einen Stützpunkt errichtet. Auch nach dem späteren Abzug der US-Truppen habe der Bewohner sein Land nicht zurückerhalten. (NYT, 8. Dezember 2020)

Lokale Behördenvertreter hätten dieses Vorgehen der internationalen Streitkräfte als illegale Landnahmen kritisiert. So hätten sich die ausländischen Truppen laut Aussage des früheren Provinzgouverneurs von Kunar „mehr Land angeeignet, als sie benötigten“. Der Vorsitzende des Provinzrates von Kunar habe nach eigenen Angaben dieses Thema in einer Reihe von Gesprächen mit den internationalen Streitkräften angesprochen, jedoch ohne Erfolg.

Nach Angaben eines lokalen Stammesführers hätten sich die ausländischen Streitkräfte in Kunar Gebiete, auf denen zuvor Dörfer und Häuser existiert hatten, mit Gewalt angeeignet und würden es nach wie vor kontrollieren. Auch ein weiterer Ortsansässiger wird mit der Aussage zitiert, dass sich die ausländischen Truppen gewaltsam Land angeeignet hätten. (IWPR, 16. September 2016)

Grundlage, auf denen Enteignungen basieren

Es konnten nur wenige Informationen gefunden werden, die auf eine Grundlage für die Enteignung von Häusern hinweisen: Es wird unter anderem berichtet, dass die internationalen Streitkräfte Grundstücke übernommen hätten, nachdem diese von ihren BewohnerInnen verlassen worden waren. So sei ein aus dem Distrikt Garmshir der Provinz Helmand stammender Mann, der dort ein Haus und Ackerland besessen hatte, wegen der dortigen Kampfhandlungen mit seiner Familie nach Kabul geflohen. Als er sich einmal an seinen Heimatort zurückbegab, habe er gesehen, dass sein Haus von ausländischen Truppen benutzt werde. Diese hätten es ihm nicht erlaubt, sich seinem Haus zu nähern. (IWPR, 27. März 2012)

Im November 2008 berichtet die NATO, dass die ISAF bei einem gemeinsamen Einsatz mit den afghanischen Sicherheitskräften in der Provinz Zabol mehrere Häuser sichergestellt hätten, die mutmaßlich von Aufständischen genutzt worden waren. (NATO, 14. November 2008)

Bedrohungen von Personen, deren Häuser von der NATO genutzt werden durch Taliban

Grundstückseigentümer, deren Land von den internationalen Streitkräften genutzt wurde, würden beklagen, dass sie von den Taliban wegen Vorwurfs, deren Feinden geholfen zu haben, bedrohen würden. So erhielt ein Bewohner des Distrikts Wata Pur (Provinz Kunar) nach eignen Angaben Morddrohungen von den Taliban, die ihm vorgeworfen hätten, Land an die ausländischen Truppen überlassen zu haben (IWPR, 16. September 2016). Weiters wird berichtet, dass Bewohner des Distrikts Panjwai (Provinz Kandahar), auf deren Dorfgebiet eine Militärbasis errichtet wurde, Sorge hatten, sie würden, falls sie Entschädigungszahlungen von den ausländischen Truppen erhielten, zu einem Ziel der Taliban werden, die überall in der Gegend präsent seien und davon erfahren würden. (NYT, 8. Dezember 2020)

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 9. März 2021)

·      Baczko, Adam: Legal Rule and Tribal Politics: The US Army and the Taliban in Afghanistan (2001–13), 8. November 2016

·      IWPR - Institute for War and Peace Reporting: Military Land Seizures Feed Afghan Anger, 27. März 2012
https://www.ecoi.net/de/dokument/1026052.html

·      IWPR - Institute for War and Peace Reporting: Afghan Farmers Ask Military to Pay Up for Land, 16. September 2016
https://iwpr.net/global-voices/afghan-farmers-ask-military-pay-land

·      NATO - North Atlantic Treaty Organizatio: Joint ANSF, ISAF operation disrupts insurgents, 14. November 2008
https://www.NATO.int/isaf/docu/pressreleases/2008/11-november/pr081114-611.html

·      NYT - New York Times: U.S. Leaves Behind Afghan Bases – and a Legacy of Land Disputes, 8. Dezember 2020
https://www.nytimes.com/2020/12/08/world/asia/afghanistan-land-military-bases.html

·      US Army: Real estate acquisition in Afghanistan more complex than location location location, 17. Jänner 2013
https://www.army.mil/article/94290/real_estate_acquisition_in_afghanistan_more_complex_than_location_location_location