Anfragebeantwortung zu Syrien: Bestätigung bzw. Registrierung einer traditionellen Eheschließung durch Scharia-Gericht oder Personenstandsregister ohne Heiratserlaubnis der syrischen Armee [a-10998]

29. Mai 2019

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Rozana, ein von syrischen JournalistInnen im Exil in Paris gegründeter Radiosender, berichtet im Februar 2015, dass man in Syrien zur Erlangung einer Heiratsurkunde ein Dokument von der Stellungskommission der Armee benötige, das auch „kein Einspruch“ genannt werde und bezeuge, dass ein junger Mann nicht gerade seinen Wehrdienst ableisten müsse. Es sei schwieriger geworden, dieses Dokument zu erhalten. In der Provinz Suweida würden daher manche Wehrdienstpflichtige eine traditionelle Ehe (Urfi-Ehe) eingehen. Die Urfi-Ehe werde vom örtlichen Scheich geschlossen. Dann werde am Scharia-Gericht ein Antrag auf eine Bestätigung der Eheschließung gestellt. Hierfür wiederum sei es notwendig, ein ärztliches Attest vorzulegen, welches bestätige, dass die Ehefrau bereits vier Monate oder länger schwanger sei. Diese Bestimmungen seien in Paragraph 40 des Personenstandsgesetzes festgehalten. Da eine gesetzliche Registrierung der Ehe nicht mehr möglich sei, würden viele zu diesem Rechtskniff greifen, um ein Familienstammbuch zu erhalten. (Rozana, 21. Februar 2015)

 

Enab Baladi, eine 2011 in Daraya bei Damaskus gegründete, der Revolution nahestehende und regimekritische syrische Medienorganisation, berichtet im Dezember 2017 über dieselbe oben beschriebene Problematik. Eine Frau namens Riem aus Damaskus habe ihren Verlobten Loay heiraten wollen, der gerade seinen Wehrdienst abgeleistet habe. Dieser habe von der Stellungskommission keine Erlaubnis zur Eheschließung erhalten. Anwälte hätten ihm geraten, statt den amtlichen Prozess zur Ausstellung einer Heiratsurkunde zu durchlaufen, einen Antrag auf Bestätigung einer Ehe zu stellen, da hierfür keine Erlaubnis der Armee benötigt werde. Das Problem für die beiden jungen Leute sei nun gewesen, dass bei dieser Vorgehensweise eine Ehe bereits bestehen müsse und eine Schwangerschaft daraus resultiert haben müsse. Wenn sie nicht in der Lage sei, ein ärztliches Attest der Schwangerschaft zu erhalten, so habe ein Rechtsanwalt Riem geraten, die Existenz eines Neugeborenen vorzutäuschen und diesem einen Namen zu geben. Sie hätten dem Rat des Rechtsanwaltes gefolgt und der Richter habe ihre Ehe bestätigt. Die Situation von Riem sei kein Einzelfall, es gebe viele Frauen, die die Geburt eines Kindes vorgegeben hätten, ohne jemals eines auf die Welt gebracht zu haben. (Enab Baladi, 17. Dezember 2017)

 

Al-Sharq al-Awsat, eine in saudischem Besitz befindliche Tageszeitung mit Sitz in London, berichtet im Oktober 2018, dass die verzögerte Erteilung von Heiratsgenehmigungen durch die Stellungskommissionen der Armee die Arbeit der Scharia-Gerichte in Damaskus behindere und zu einem Anstieg von traditionell geschlossenen Ehen, sogenannten Urfi-Ehen, geführt habe. Die syrische regierungsnahe Zeitung Al-Watan habe berichtet, dass die verpflichtende Heiratsgenehmigung für Personen, die im wehrdienstfähigen Alter oder in der Reserve seien, vermehrt zu Urfi-Ehen geführt habe, was wiederum die Richter am Scharia-Gericht dazu bewogen habe, die Abschaffung dieser gesetzlichen Bestimmung zu fordern. Laut Auskunft einer Quelle innerhalb des Justizwesens seien 99 Prozent der Antragstellungen zur Bestätigung der Ehe das Resultat einer nicht erfolgten Heiratsgenehmigung durch die Stellungskommission der Armee. Die Quelle habe des Weiteren berichtet, dass Behördenangestellte und Vermittler die Lage junger Leute, die um eine solche Genehmigung ansuchen würden, ausnutzen und von ihnen Geld erpressen würden. Daher würden viele junge Leute auf die Urfi-Ehe zurückgreifen, die außerhalb des Gerichts geschlossen werde und die Heiratsgenehmigung der Stellungskommission umgehe. Dies sei jedoch wiederum ein schwieriger Prozess, da die zukünftigen Eheleute eine Fülle von Dokumenten vom Zivilregister benötigen würden, darunter ein Familienstammbuch. (Al-Sharq Al-Awsat, 8. Oktober 2018)

 

Das ägyptische Nachrichtenportal Arabi 21 berichtet im August 2016, dass in letzter Zeit in von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten vermehrt gefälschte Atteste privater ÄrztInnen aufgetaucht seien, die eine Schwangerschaft bestätigen würden. Diese Fälschungen würden in Koordination zwischen den Ämtern, den FrauenärztInnen und Angestellten des Gesundheitsministeriums erstellt und würden etwa 800 US-Dollar kosten. Nachdem solche Fälle vermehrt aufgetreten seien, habe das Justizministerium wenige Tage vor Veröffentlichung des Artikels ein Rundschreiben ausgesendet, dem zufolge nur noch Schwangerschaftsatteste öffentlicher Krankenhäuser zugelassen seien. (Arabi 21, 3. August 2016)

 

Die syrische Nachrichtenwebsite DP-News berichtet im August 2016 ebenfalls über die Aussendung des Justizministeriums zur alleinigen Zulassung von Schwangerschaftsattesten öffentlicher Krankenhäuser. Laut dem vorsitzenden Richter in Damaskus, Mahmoud Al-Maarawi, weise diese Anordnung jedoch Lücken auf, da private Krankenhäuser nicht explizit erwähnt würden. Al-Maarawi zufolge seien bis dato Schwangerschaftsatteste oder Geburtenbescheinigungen für die Bestätigung einer Ehe akzeptiert worden, wenn sie von einem Frauenarzt beziehungsweise einem privaten oder allgemeinen Krankenhaus ausgestellt worden seien. In letzter Zeit scheine es jedoch, dass eine ganze Reihe solcher Bescheinigungen von einigen ÄrztInnen an VermittlInner verkauft werde, ohne dass es eine Schwangerschaft oder eine Geburt gegeben habe. Die Anzahl von Bestätigungen einer Ehe mithilfe solcher Dokumente sei gestiegen. Die Gesetzeslücke zur Umgehung der von der Rekrutierungskommission erteilten Heiratserlaubnis habe folgendermaßen funktioniert: Bei einem Antrag auf Bestätigung einer Ehe durch die Ehefrau hätten die Gerichte im Falle der Abwesenheit des Mannes ein Schwangerschaftsattest eines Arztes akzeptiert, um eine Ehe zu bestätigen. Daraufhin sei an den Ehemann eine Aufforderung gesendet worden, vor Gericht zu erscheinen. Wenn der Ehemann dieser Aufforderung nicht nachgekommen sei, seien zwei Zeugen erforderlich gewesen, um zusammen mit der Ehefrau die Ehe vor Gericht zu bezeugen. In diesem Fall sei die Ehe in einem sehr einfachen Prozess ohne Dokumente und ohne Beisein des Ehemannes bestätigt worden. Al-Maarawi habe noch mittgeteilt, dass aufgrund der unpräzisen Formulierung des Rundschreibens des Justizministeriums die Gerichte auch weiterhin Atteste öffentlicher und privater Krankenhäuser, sowie von zum Gesundheitsministerium gehörenden Gesundheitszentren in Regionen, in denen es keine Krankenhäuser gebe, akzeptieren würden. (DP-News, 3. August 2016)

 

Das in Dubai ansässige, auf Wirtschaftsthemen fokussierte Nachrichtenportal Arabian Business schreibt im Februar 2019, dass das Parlament die Novellierung von mehr als 60 Paragraphen des Personenstandsgesetzes von 1950 beschlossen habe. Dabei sei auch die Bestimmung bezüglich der Einwilligung der Armee bei einer Heirat abgeändert worden. Eine solche Einwilligung sei jetzt nur noch bei denjenigen Personen erforderlich, die sich freiwillig zum Dienst in der Armee gemeldet hätten. Zuvor sei sie von jeder Person im wehrdienstfähigen Alter eingefordert worden. (Arabian Business, 5. Februar 2019)

 

Die Abschaffung des Gesetzesparagraphen bezüglich der Einwilligung der Armee bei einer Heirat meldet in einem undatierten Beitrag auch die Onlinezeitung Al-Mouhallel. (Al-Mouhallel, ohne Datum)

 

Weitere Informationen zu gesetzlichen Bestimmungen bei Eheschließungen finden sich auch in folgendem Bericht des norwegischen Herkunftsländerinformationszentrums Landinfo vom August 2018 (englische Übersetzung):

 


 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 29. Mai 2019)