Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Konversion eines Vaters und dessen Sohnes (aus einer Ehe mit einer Schiitin) vom Sunnitentum zum Schiitentum [a-10968]

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19. April 2019

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Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN), erklärt in einer E-Mail-Auskunft vom April 2019 Folgendes:

„Ich kann mir vorstellen, dass sunnitische Familien (aber auch nicht alle!) alles andere als glücklich sein werden, wenn jemand aus ihrer Familie zum Schiitentum konvertiert - andersherum ähnlich, obwohl möglicherweise häufiger. 

Marginalisierung in oder Ausstoßung aus der Familie, vielleicht sogar Drohungen oder Übergriffe halte ich für möglich, ebenfalls sozialen Druck, ‚schiefes Ansehen‘ der Familie, die ‚das zugelassen hat‘. Beides auch anhaltend, um die Entscheidung rückgängig zu machen. Aber ich bezweifle, dass das ‚Verfolgung‘ im politischen Sinne wäre.

Ich glaube auch nicht, dass die Behörden sich in so etwas einschalten würden - es sei denn, eine der Familien hätte dort Bekannte/Verwandte, aber die würden dann aus 'privatem' Interesse handeln.“ (Ruttig, 16. April 2019)

In einer weiteren E-Mail-Auskunft vom April 2019 führt Dr. Alessandro Monsutti von der Fakultät für Anthropologie und Soziologie des Graduate Institute in Genf an, dass er von einigen Konversionen vom Sunnitentum zum Schiitentum gehört habe, aber vor allem von Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen in einem meist schiitischen Dorf niedergelassen hätten. Wenn er bedenke, was ihm über die afghanische Gesellschaft bekannt sei, dann sei es im Falle einer Ehe plausibel, dass die Familie des Vaters wirklich verärgert sei: In der patrilateral organisierten Gesellschaft würden Kinder zur Linie ihres Vaters gehören. Die Konversion des Vaters würde also bedeuten, dass seine Linie auch seinen Sohn verliere. Deshalb sei die Gefahr der Verfolgung durch die Familie des Vaters plausibel. Generell werde Konversion in Afghanistan, insbesondere von Männern (aus dem oben genannten Grund), negativ betrachtet. Viele fromme Sunniten würden sogar denken, dass Schiiten nicht wirklich muslimisch seien, da sie die vier Kalifen nicht anerkennen würden. Alle männlichen Mitglieder der Linie könnten unter Druck geraten, die kollektive Ehre wiederherzustellen, insbesondere die Brüder des Betroffenen und der erste Cousin väterlicherseits:

I have heard about a few conversions from Sunnism to Shiism, but mostly people who settled down for various reasons in a mostly Shia village. In the case of a marriage, it is plausible considering what I know about Afghan society that the father's family is really upset. In patrilateral society, children belong to the lineage of their father. So the conversion of the father means that his lineage is losing his son too. So the threat of persecution by the father's family is plausible. Generally speaking conversion is badly considered in Afghanistan, especially of men (for the aforementioned reason). Many pious Sunnis would even consider that Shias are not really Muslim, as they don't recognized the four califes. All male members of the lineage may feel the pressure to restore their collective honor, in particular the brothers and paternal first cousin.” (Monsutti, 16. April 2019)

Dr. Monsutti erklärt in seiner E-Mail-Auskunft weiters, dass er den Unterschied zwischen Stadt und Land in Bezug auf die mögliche Verfolgung von vom Sunnitentum zum Schiitentum Konvertierten nicht überbewerten würde. Fast jeder in Afghanistan sei durch den Krieg auf die eine oder andere Weise vertrieben worden. Die meisten alten Familien aus Kabul hätten das Land verlassen, während große Teile der städtischen Bevölkerung heute RückkehrerInnen aus Pakistan oder dem Iran seien. Es handle sich häufig um ursprünglich ländliche Menschen, die im Exil verstädtert worden seien und gleichzeitig enge Verbindungen zu ihren Herkunftsdörfern hätten:

I would not exaggerate the urban vs. rural divide. Almost everybody in Afghanistan has been displaced in a way or the other by the war. Most old Kabuli families have left the country, while the large segments of the urban population now are returnees from Pakistan or Iran, originally rural people who have been urbanised in exile while keeping strong ties with their villages of origin.” (Monsutti, 16. April 2019)

Melissa Kerr Chiovenda, Assistenzprofessorin für Anthropologie an der Zayed University in Abu Dhabi, schreibt in einer E-Mail-Auskunft vom April 2019, dass bei einer Konversion vom Sunnitentum zum Schiitentum die Möglichkeit der Verfolgung durch Familienmitglieder absolut möglich sei. Die (sunnitische) afghanische Gesellschaft nehme eine derartige Konversion als etwas Verwerfliches wahr. Für viele SunnitInnen in Afghanistan sei es schlimmer, Schiit zu sein als ein Nicht-Muslim, da SchiitInnen ihrer Ansicht nach den Islam falsch praktizieren würden. Dies sei für viele unverzeihlich. Während dennoch viele in Frieden leben würden, gebe es auch Fälle von Gewalt gegen SchiitInnen aufgrund ihres Glaubens. Eine derartige Gefahr wäre noch höher, wenn sich jemand freiwillig dafür entscheiden würde, Schiit zu werden. Kerr Chiovenda geht in ihrer E-Mail-Auskunft davon aus, dass die Menschen in ländlichen Gebieten einem größeren Risiko ausgesetzt sein könnten, die Gefahr wäre jedoch auch in städtischen Gebieten sehr real, insbesondere, wenn man bedenke, dass die Landflucht in Afghanistan extrem hoch und das Bildungssystem durch die Kriegsjahre schwer beschädigt worden sei. Kerr Chiovenda erwähnt in ihrer E-Mail-Auskunft weiters, dass sie von Fällen, die von einer derartigen Situation betroffen gewesen seien, gehört habe:

„The chance of persecution by family members if someone would convert is absolutely a possibility. People who have converted would be perceived by (Sunni) Afghan society to have done something reprehensible. In some ways, for many Sunnis in Afghanistan, to be Shi'a is worse than to be a non-Muslim, because Shi'as are considered to be practicing Islam in a wrong way, something that for many in unforgivable.  While many will live in peace, there are instances of violence against Shi'as for their faith. This would be all the worse if someone chose to become Shi'a. I do think that people in rural areas might face more risk of this, but the danger would be very real in urban areas as well, especially taking into consideration extremely high levels of rural urban migration in Afghanistan and an educational system that was damaged severely by the years of war. I have heard of some examples of this happening from interlocutors in Afghanistan. The only specific name I can recall took place among the Haji Qumber tribe in Bamyan, but I believe it has happened elsewhere. There was also the case of Zakia and Mohammed Ali, which was well publicized in the New York times. This couple, a Sunni Tajik and Shi'a Hazara, eloped, and the girl's father sought to kill them. Ultimately they were given asylum in the US.“ (Kerr Chiovenda, 18. April 2019)

 


Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 19. April 2019)

  • Kerr Chiovenda, Melissa: E-Mail-Auskunft, 18.April 2019
  • Monsutti, Alessandro: E-Mail-Auskunft, 16.April 2019
  • Ruttig, Thomas: E-Mail-Auskunft, 16.April 2019