Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Staatlicher Schutz vor Zwangsheirat; Sanktionen für Mädchen bei Flucht aus Zwangsheirat [a-10346-1]

13. Oktober 2017

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Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

 

Informationen zu dieser Anfrage entnehmen Sie bitte auch folgender ACCORD-Anfragebeantwortung vom August 2014:

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Gesetze, Schutzeinrichtungen und Initiativen gegen Zwangsverheiratungen und Ehrenmorde [a-8797-2 (8798)], 25. August 2014 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/local_link/288321/422704_de.html

 

Die dänische Einwanderungsbehörde (Danish Immigration Service, DIS) schreibt in einem Fact-Finding-Mission-Bericht vom Mai 2012 unter Berufung auf das afghanische Ministerium für Frauenangelegenheiten, dass junge Männer und Frauen, die soziale Normen in Bezug auf Heirat verletzen würden, indem sie sich etwa einer Zwangsehe widersetzen würden, in Afghanistan mit „riesigen“ Problemen konfrontiert seien:

„MoWA [Ministry of Women's Affairs] stated that young men and women, who are breaking social norms with regard to marriage, including rejecting a forced marriage, are facing huge problems in Afghanistan.” (DIS, 29. Mai 2012, S. 35)

Das Institute for War and Peace Reporting (IWPR), ein in London ansässiges internationales Netzwerk zur Förderung freier Medien, schreibt in einem Artikel vom November 2016, dass Kinderehen im Norden Afghanistans nach wie vor weit verbreitet seien, und dass die lokalen Behörden darauf hinweisen würden, dass sie nicht die Macht hätten, diese Praxis zu bekämpfen. Der Leiter des Regionalbüros der Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) in Balch habe angegeben, dass Zahlen aus dem Jahr 2015 gezeigt hätten, dass 56 Fälle von Zwangsehen von minderjährigen Mädchen in den nördlichen Provinzen registriert worden seien. Dabei handle es sich jedoch nur im die Spitze des Eisberges. Die Fälle von Zwangsehen minderjähriger Mädchen in entlegenen Gebieten und Dörfern seien viel häufiger als erwartet. Die Fälle, die registriert würden, würden sich vorwiegend um viel ältere Männer drehen, die große Summen zahlen würden, um junge Mädchen zu heiraten. Derartige Ehen seien auf Armut, fehlende Bildung und überholte Traditionen zurückzuführen. Das 2009 vom Präsidenten per Dekret erlassene Gesetz zur Beseitigung von Gewalt verbiete unter anderem Zwangsehen, Ehen mit Minderjährigen oder Ehen, die einem Geschäft zwischen zwei Familien gleichkommen würden. Das Gesetz sei jedoch 2013 vom Parlament abgelehnt worden und liege seitdem auf Eis:

„An investigation by IWPR has revealed that child marriage remains rampant in the north of Afghanistan, with the local authorities warning that they are powerless to combat the practice. […]

Mohammad Sameh, head of the AIHRC [Afghanistan Independent Human Rights Commission] regional office in Balkh, also said that child marriage was an ongoing crisis. He said that figures from 2015 showed that 56 cases of forced marriages of underage girls had been registered in the northern provinces. He stressed, however, that this was just the tip of the iceberg. ‘The cases of forced marriages of underage girls in remote areas and villages are much higher than we thought or expected,’ he continued. Sameh said that the cases that they registered related mostly to much older men who had paid large sums to marry young girls. Such marriages, she continued, were due to poverty, illiteracy, and outdated traditions. As a result, girls were deprived of their education and often felt they had no other option but to run away from home. Sometimes girls and older women went on to commit suicide. Complications from repeated and early pregnancies were also a serious issue.

The Law on the Elimination of Violence Against Women, enacted by presidential decree in 2009, prohibited a range of abuses including marriages that are coercive, involve minors or amount to a transaction between the two families. However, this law was rejected by parliament in May 2013, and has been shelved ever since.“(IWPR, 7. November 2016)

Das französische Auslandsfernsehen France 24 schreibt in einem im April 2017 auf seiner Webseite veröffentlichten Beitrag, dass in der westlich von Kabul gelegenen Provinz Ghor Kinderehen üblich seien und es häufig zu „Ehrenmorden“ komme, wobei die Getöteten häufig Frauen seien, die versuchen würden, den Ehen, in die sie gezwungen worden seien, zu entfliehen. Laut afghanischem Gesetz müssten Mädchen 16 Jahre und Jungen 18 Jahre alt sein, um heiraten zu können. Der Korrespondent von France 24 berichte jedoch, dass in den entlegenen Dörfern von Ghor das Gesetz selten respektiert werde. Die Heirat eines sechsjährigen Mädchens mit einem 55-jährigen Mullah in Ghor habe 2016 für internationale Empörung gesorgt. In Ghor gebe es mächtige Stammesführer sowie Taliban. Die Polizei arbeite nicht effektiv, und denke nur daran, wie sie Geld erhalten könne. Die Provinz sei für niemanden sicher, aber besonders unsicher sei sie für Frauen. Viele Frauen hier seien in Ehen gezwungen worden, als sie noch Kinder gewesen seien. Wen diese Frauen älter würden, wollten sie davonlaufen, um dem elenden Leben zu entkommen, in das sie gezwungen worden seien. Sollten sie dies wagen, würden sie häufig Opfer von Ehrenmorden, die von den männlichen Mitgliedern ihrer Stämme verübt würden. Die Leute würden diese Männer nicht als Kriminelle ansehen. Man akzeptiere, dass sie die Ehre ihrer Familie verteidigen würden. Und es sei einfach für die Täter, in den Taliban-Gebieten Unterschlupf zu finden, wo die Polizei sie nicht verhaften könne:

„Ghor is a remote mountain province 400 km west of the capital Kabul. The Taliban and other armed groups are active, and state control is weak. It’s also one of the least-developed provinces in Afghanistan: child marriage is common, and ‘honour killings’ – often women trying to flee marriages they were forced into – are frequent. According to Afghan law, girls must be 16 years old to marry, and boys 18. But our Observer says that in the remote villages of Ghor, the law is seldom respected. The marriage of a 6-year-old girl to a 55-year mullah in the province 2016 provoked international outrage. […]

Ghor is a no man’s land. People are poor and not educated, and the culture of violence and weapons is well-established. People live in fear – in fear of the powerful tribal leaders, who are often involved in the drug trade, and the Taliban. The police are ineffective and just think about getting more money.

It’s unsafe for everyone, but especially for women. Many women here were forced into marriages when they were still children – as early as 10 years old; and sometimes even younger. When they get older they want to run away from the miserable life they were forced into. And if they try they often end up becoming victims of honour killings by male members of their tribe. People don’t see these men as criminals: they accept that they are defending their family’s honour. Also, it’s easy for the perpetrators to find shelter in the Taliban regions, where the police can’t arrest them.“ (France 24, 13. April 2017)

[Passage aus dem Asylbericht des Auswärtigen Amtes entfernt]

 

Das US-Außenministerium schreibt in seinem im März 2017 veröffentlichten Jahresbericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum: 2016), dass das Präsidialdekret zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen Gewalt gegen Frauen unter Strafe stelle, unter anderem auch Zwangsehen. Die Umsetzung des Dekrets sei jedoch beschränkt. Das Gesetz sei weithin nicht verstanden worden und einige Personen in der Öffentlichkeit sowie die religiösen Gemeinschaften würden es als unislamisch erachten. Vielen Behörden habe der politische Wille gefehlt, das Gesetz umzusetzen, weshalb sie es nicht voll durchgesetzt hätten. Frauen seien bei Straf- und Zivilverfahren in Zusammenhang mit Zwangsehen von Polizisten, Staatsanwälten und Richtern diskriminiert worden:

„Rape and Domestic Violence: The EVAW [presidential decree on the Elimination of Violence Against Women] law criminalizes violence against women, including rape, battery, or beating; forced marriage; humiliation; intimidation; and deprivation of inheritance, although its implementation remained limited. […] The law was not widely understood, and some in the public and the religious communities deemed the law un-Islamic. Many authorities lacked the political will to implement the law and failed to enforce it fully. […]

Police, prosecutors, and judges discriminated against women in criminal and civil legal proceedings stemming from violence and forced marriages.“ (USDOS, 3. März 2017 Section 6)

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), eine Agentur der Europäischen Union, die die praktische Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Asylbereich fördern soll und die Mitgliedsstaaten unter anderem durch Recherche von Herkunftsländerinformation und entsprechende Publikationen unterstützt, schreibt in einem Bericht vom August 2017 unter Bezugnahme auf mehrere Quellen, dass laut der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) Frauen, die alleine leben würden, in der Gesellschaft stigmatisiert würden. Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) habe erklärt, dass Frauen, die aus einer gewalttätigen Ehe („abusive marriage“) flüchten würden, dem Risiko ausgesetzt seien, wegen Zina strafrechtlich verfolgt zu werden. Frühehen seien in Afghanistan weit verbreitet, wodurch Frauen in Zwangsehen den gesundheitlichen Folgen früher Schwangerschaften ausgesetzt seien. Mädchen und Frauen, die versuchen würden, aus Zwangsehen zu fliehen, würden oft von den eigenen Familien verstoßen und hätten wegen des Stigmas des Weglaufens keinen Ort, an den sie gehen könnten. Frauen und Mädchen könnten sogar wegen des Beschmutzens der Familienehre getötet werden. Diejenigen, die nicht von ihren Familien unterstützt würden, seien oft gezwungen, zu betteln oder sich zu prostituieren. Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sei 2003 ratifiziert worden. Das Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen (EVAW) sei 2009 durch ein Präsidialdekret verabschiedet worden. Dieses Gesetz definiere 22 Gewalttaten gegenüber Frauen und stelle sie unter Strafe, darunter auch Zwangsehe. Konservative Elemente in der afghanischen Gesellschaft würden das EVAW jedoch ablehnen und einige Richter würden den Status des Gesetzes in Frage stellen bzw. es nicht anwenden. Das Gesetz sei nicht vom Parlament ratifiziert worden und mehrere weibliche Parlamentsabgeordnete hätten das Gesetz nicht unterstützt. Die Umsetzung und Durchsetzung des EVAW sowie die Kenntnis darüber seien begrenzt.

Frauen könnten dafür bestraft werden, wenn sie versuchen würden, der eigenen Familiensituation zu entkommen, wenn sie beispielsweise vor einer Zwangsehe flüchten würden. 2012 habe die Regierung angeordnet, dass Frauen für das Weglaufen von zu Hause nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden sollten. Staatsanwälte hätten Berichten zufolge gegen Frauen Anklage wegen Zina (der Absicht, außereheliche sexuelle Beziehungen einzugehen, oder die Wahrnehmung, dies bereits getan zu haben) oder versuchter Zina erhoben. Obwohl die Verfassung und die Gesetzes des Landes ein derartiges Verhalten nicht bestrafen würden, würden manche Richter es wie einen Straftatbestand nach islamischem Recht behandeln. Solche Frauen könnten von der Polizei inhaftiert und von den Gerichten strafrechtlich verfolgt werden. In den Städten sei dies jedoch weniger ein Problem als in ländlichen Gebieten oder Stadtrandgebieten:

„According to UNAMA [United Nations Assistance Mission in Afghanistan ], women living alone experience societal stigma, and UNHCR [UN High Commissioner for Refugees] explained that women who leave an abusive marriage face the risk of prosecution for zina. […]

Early marriage is common in Afghanistan, leaving girls and women in forced marriages exposed to the health consequences of early pregnancy, such as fistula, and risks of domestic violence. Girls and women who try to escape from forced marriage are often rejected by their families and have nowhere to go due to the stigma of running away. Women and girls may be even killed for shaming the honour of the family. Those without any family support are often forced to become beggars or prostitutes to support themselves and their families.“ (EASO, August 2017, S. 34-35)

„Ratification of the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (CEDAW) without reservation took place in 2003. The Law on the Elimination of Violence Against Women (EVAW) was passed with a presidential decree in 2009. The EVAW law defines and criminalises 22 acts of violence against women, including rape, battery, or beating; forced marriage; humiliation; intimidation; and deprivation of inheritance. However, the conservative elements of Afghan society object to the EVAW and some judges question its status or do not apply it. The law was not ratified by parliament and some female MPs did not support the law. The implementation, awareness, and enforcement of the EVAW law is limited.” (EASO, August 2017, S. 106)

„Women may be punished for trying to escape their family situation, for example in case they run away from home, or from forced marriage, domestic violence or rape. In 2012, the government ordered an end to prosecutions of women for running away. Prosecutors had reportedly charged women for zina (i.e. the intention of or being perceived to have committed extramarital sexual relations) or even for ‘attempted zina’ by the court. Although constitution and the state law do not punish such behaviour, some judges treat this as a criminal offence under Islamic law. Such women can be then detained by police and prosecuted by courts. However, in the cities this is less of a problem than in rural areas, or peri-urban areas, because there is better monitoring by civil-society groups in urban centres.” (EASO, August 2017, S. 109)

Das Center for Gender & Refugee Studies (CGRS) an der University of California schreibt in einem Bericht vom April 2016, dass Frauen in Afghanistan wegen des Weglaufens von zu Hause, häufig in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt oder Zwangsehen, oder wegen anderer „Moralverbrechen“ mit strafrechtlicher Verfolgung konfrontiert seien. Dafür gebe es jedoch keine gesetzliche Basis. Die Regierung habe Richtlinien herausgegeben, denen zufolge Frauen nicht länger wegen des Weglaufens von zu Hause strafrechtlich verfolgt werden sollten. Dennoch sei dies aber nach wie vor der Fall. Staatsanwälte hätten erfolgreich Verfahren gegen Frauen eingeleitet, indem sie das Weglaufen in eine Anklage wegen versuchter „Zina“ umgewandelt hätten. Es gebe zwar eine gesetzliche Grundlage für die strafrechtliche Verfolgung von Zina, es gebe jedoch keine Definition oder Erklärung der Elemente dieses Verbrechens. Und das Gesetz sei fehlinterpretiert worden, um falsche Anschuldigungen gegen Frauen vorzubringen, die keine sexuellen Kontakt zu einem Mann und auch nicht die Absicht dazu hätten, sondern lediglich in Anwesenheit eines Mannes, der kein Familienmitglied sei, angetroffen worden seien. Die Behörden würden behaupten, dass eine Frau, die von zu Hause weglaufe, dies tue, um ungesetzlichen Geschlechtsverkehr zu haben. In Wirklichkeit würden aber viele Frauen von zu Hause weglaufen, um häuslicher Gewalt oder Zwangsehen zu entgehen:

„Women in Afghanistan face prosecution for running away from home, often in the context of domestic violence or forced marriage, and other alleged ‘moral crimes.’ However, there is no legal basis for prosecuting a woman for running away or elopement. The Afghan Penal Code regulates specific Sharia law crimes and penalties, providing that the crimes of hudood (meaning crimes with predetermined or fixed punishments in the Qur’an), qisas (a category of crimes for which an ‘eye for an eye’ or retaliatory punishment is allowed under Sharia law), and diyat (financial compensation paid to victims of particularly serious crimes such as murder or bodily harm) ‘shall be punished in accordance to the provisions of Islamic religious law applicable in Afghanistan.’ Running away from home is not codified as and does not constitute any of the above-mentioned types of crimes. The government has even issued guidelines that women should no longer be prosecuted for running away from home. Notwithstanding the lack of legal basis, women are still being prosecuted for this reason. Prosecutors have successfully brought cases against women by transforming the act of running away into a charge of attempted zina. Although there is a basis for prosecuting zina in the law, there is no definition or explanation of the elements of the crime, and the law has been misinterpreted to bring false charges against women who have had no actual or intended sexual contact with a man, but have merely been found in the presence of a man who is not a family member. Authorities allege that a woman who runs away from home is doing so in order to have unlawful sexual intercourse. In reality, many women in Afghanistan leave their homes to escape domestic violence or forced marriages.“ (CGRS, April 2016, S. 17)

Der deutsche Nachrichtensender N-TV meldet auf seiner Webseite folgenden Fall:

„Eine wütende Menge hat im Osten von Afghanistan in aller Öffentlichkeit ein junges Paar getötet, das eine außereheliche Beziehung führte. Die 18-jährige Frau, die gegen ihren Willen mit einem anderen Mann verheiratet worden war, und ihr 19-jähriger Freund wurden wegen ‚unsittlichen Verhaltens‘ auf einer Polizeistation festgehalten, wie Regierungsvertreter mitteilten. Sie waren am Tag zuvor festgenommen worden. ‚Die Familie der Frau war der Ansicht, sie habe ihre Ehre verletzt‘, sagte Provinzgouverneur Hafis Abdul Kajom. Gemeinsam mit bewaffneten Dorfbewohnern stürmten Angehörige demnach die Polizeistation in der Provinz Nuristan, zwangen das Paar nach draußen und erschossen die Frau und den Mann in aller Öffentlichkeit. Ein weiterer Provinzvertreter warf der Polizei vor, das Paar nicht ausreichend beschützt zu haben. Kajom zufolge wurden bei dem Vorfall drei Polizisten verletzt. Die Regierung leitete eine Untersuchung zu dem sogenannten Ehrenmord ein.“ (N-TV, 12. Februar 2017)

Das niederländische Außenministerium (Ministerie van Buitenlandse Zaken, BZ) schreibt in einem im November 2016 veröffentlichten Bericht, dass im November 2015 ein Mädchen in Ghor von den Taliban gesteinigt worden sei, weil es geplant haben solle, mit einem jungen Mann davonzulaufen, obwohl sie bereits verheiratet gewesen sei. Sie sei mit einem viel älteren Mann verheiratet worden, den sie nicht habe heiraten wollen. Präsident Ghani habe die Steinigung zwar verurteilt und eine Delegation des Präsidenten nach Ghor entsandt, um die Angelegenheit zu untersuchen, ein Mitglied der Delegation sei jedoch für die Steinigung gewesen, vorausgesetzt, sie sei nach angemessenen Regeln zum Schutz der Ehre der Frau durchgeführt worden. Der Mann, der diese Ansicht geäußert habe, sei ein prominentes Mitglied des Nationalen Ulema-Rats, der höchsten religiösen Autorität in Afghanistan. Der Ulema-Rat spreche sich für Gesetze aus, die Bestrafungen nach der Scharia, beispielsweise Steinigen und Auspeitschen, für rechtlich zulässig erklären würden.

Frauen, die aus Angst vor einem Ehrenmord in ein Frauenhaus flüchten würden, könnten dieses häufig nicht mehr verlassen, weil es sehr wahrscheinlich sei, dass sie getötet würden. Es sei für eine afghanische Frau sehr schwierig wenn nicht unmöglich, in eine große Stadt zu übersiedeln, um einem Ehrenmord zu entgehen, schon allein deshalb, weil sie nirgendwo selbständig leben könne. Die Regierung sei nicht in der Lage, Frauen vor Ehrenmorden zu schützen, und es sei wenig wahrscheinlich, dass potentielle Opfer, die zumeist Frauen seien, um staatlichen Schutz ansuchen würden, da sie sich schämen würden, Angst vor Gewalt oder dem Verlust ihrer Kinder hätten. Frauen würden manchmal präventiv, „zu ihrer eigenen Sicherheit“ in Haft genommen, um sie vor Ehrenmorden zu schützen:

„In a number of cases the Taliban carried out the punishment (death by stoning, flogging or three gunshots) in districts where they are in charge. In November 2015, for instance, a girl was stoned in Ghor who was alleged to have planned to run away with a boy when she was already married. She had been married off to a much older man whom she had not wanted to marry. Although President Ghani condemned the stoning and sent a presidential delegation to Ghor to investigate the matter, one of the members of the delegation was in favour of stoning, provided it was done according to the proper rules, as a way of protecting women’s honour. The man who expressed this view is a prominent member of the National Ulema Council, the highest religious authority in Afghanistan. The Ulema Council is in favour of legislation that makes sharia punishment such as stoning and flogging legally permissible. […]

Women who flee to one of the shelters for women for fear of an honour killing (see 3.5.6 Women) are often unable to leave again because of the high probability that they will be killed. Avoiding an honour killing by resettling in a big city is very difficult, if not impossible, for an Afghan woman, not least because she cannot live anywhere on her own. […]

The government is unable to provide protection against honour killings, and potential victims – mostly women – are unlikely to request it in any case, out of shame or fear of violence or the loss of their children. Women are sometimes taken into custody as a preventive measure ‘for their own safety’ to protect them against honour killings.“ (BZ, 15. November 2016, S. 74-75)

EASO berichtet in dem oben bereits angeführten Bericht auch, dass in der Gesellschaft Frauenhäuser von NGOs als Orte angesehen würden, die Frauen dazu veranlassen würden, ihr Zuhause zu verlassen oder sich unmoralisch zu verhalten. Es gebe Bedenken, ob die Frauenhäuser in der Lage seien, Schutz sowie langfristige Unterstützung und Reintegrationsmaßnahmen zu bieten. Laut der UNO seien Frauenhäuser von NGOs oftmals der einzig sichere Ort für Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden seien. Quellen zufolge gebe es 28 Frauenhäuser in Afghanistan, die auch als Frauenschutzzentren bezeichnet würden. Es gebe nicht ausreichend Plätze in diesen Zentren, insbesondere nicht in Stadtzentren. Die meisten der Zentren seien in den westlichen, nördlichen und zentralen Landesteilen. 2014 hätten diese Zentren etwa 3.000 Frauen und Kindern Schutz geboten. Frauen, die nicht wieder mit ihren Familien zusammengeführt werden könnten oder die unverheiratet seien, seien dazu gezwungen, in den Zentren zu bleiben, die in der Gesellschaft als Zentren der Prostitution angesehen würden. Laut dem Ministerium für Frauenangelegenheiten würden einige der Beamten in den Unterkünften die Frauen in den Zentren als Kriminelle erachten. Das US-Außenministerium berichte, dass sowohl das Ministerium für Frauenangelegenheiten als auch NGOs manchmal Ehen für Frauen arrangiert hätten, die nicht zu ihren Familien hätten zurückkehren können. Frauen, die keinen Schutz finden würden, würden wegen fehlender Schutzzentren oder wegen des Vorwurfs des Weglaufens oft im Gefängnis enden. Frauenhäuser würden von der Gesellschaft als Orte wahrgenommen, in denen Prostituierte und unmoralische Frauen untergebracht würden. Frauen, die in den Häusern Zuflucht finden würden, könnten vielleicht wegen dieses Stigmas nicht zurückkehren. Das würde dazu führen, dass Frauen lange, bis zu fünf Jahre, in den Zentren leben würden. Das Problem, für diese Frauen ein langfristiges und unabhängiges Leben zu organisieren, müsse erst noch angegangen werden. Es gebe Berichte, dass Frauen in den Provinzen Balch und Kabul, die in ihre Gemeinschaften zurückkehren würden, zusätzlich zu dem Stigma, das mit einem Aufenthalt im Gefängnis oder einem Frauenhaus einhergehe, mit weiterer Gewalt und Aggression bis hin zu Mord konfrontiert seien:

„NGO shelters are typically viewed by the community as places that encourage women to leave home or behave immorally. There are concerns regarding the ability of shelters to provide protection and over their ability to provide long term support and reintegration to women. According to the UN, NGO shelters were often the only safe refuge for women surviving domestic violence. Sources report that 28 women’s shelters in Afghanistan are operational, also called Women’s Protection Centers. Space is insufficient at these centres, particularly in urban centres and most of them are situated in the western, northern and central regions. The shelters hosted about 3,000 women and children in 2014. […] Women who could not be reunited with family or who were unmarried were compelled to remain in women’s protection centres and shelters were perceived by society as being centres of prostitution. According to the Ministry of Women’s Affairs, some officials in some safe homes perceive the women in the shelters as criminals. The US Department of State reports that MoWA, as well as nongovernmental entities, sometimes arranged marriages for women who could not return to their families. Women who could not find protection often end up in prison due to lack of protection centres or due to accusations of running away. Women’s shelters are perceived by society as housing prostitutes or sheltering immoral women. Women who are sheltered may not be able to return home due to such stigma. This results in women living in shelters for long periods, as long as five years, and there remains a need to address their long term safe and independent living arrangements. In Balkh and Kabul Provinces it has been reported that in addition to stigmatisation, women who return to their communities from prisons or safe houses have been subjected to further violence, aggression and even murder.” (EASO, August 2017, S. 112-113)

In einem Artikel der unabhängigen afghanischen Nachrichtenagentur Pajhwok Afghan News (PAN) vom März 2017 werden ebenfalls 28 Unterkünfte für Frauen genannt, sechs davon in Kabul. Laut einer Beamtin des Ministeriums für Frauenangelegenheiten, die für Häuser zuständig sei, überwache das Ministerium das Funktionieren der Zentren und setze Maßnahmen zur Verbesserung der dortigen Lebensbedingungen. Die Vorsitzende der Kommission für Frauenangelegenheiten der Wolesi Dschirga habe angemerkt, dass sich Beamte in manchen der Zentren den Bewohnerinnen gegenüber nicht gut verhalten und sie als Kriminelle ansehen würden:

„Nazai Faizi, a Ministry of Women Affairs (MoWA) official who is in charge of the facilities, said 28 safe homes, six of them in Kabul, existed across the country.

According to her, the ministry is monitoring the function of these safe homes and it also takes necessary measures for the improvement of living conditions inside the shelters. Fawzia Kofi, head of the women’s affairs commission of the Wolesi Jirga, said: ‘In the absence of safe centres, problems and challenges of women, who need help, will significantly increase.’ But she alleged officials at some safe homes did not behave well with inmates and saw them as criminals. The women, having experienced violence and threats, need protection, good behavior and medical care. The organisations concerned should take into consideration these issues and the government should also closely monitor their functioning to prevent abuse, the lawmaker concluded.“ (PAN, 7. März 2017)

Women for Afghan Women (WAW), eine Organisation, die unter anderem Frauenhäuser in Afghanistan betreibt, berichtet in einem undatierten Beitrag auf der eigenen Homepage, dass 2013 eine Klientin der Organisation 17 Jahre alt gewesen sei, als sie mit einem Mann verheiratet worden sei, der bereits eine Frau und Kinder gehabt habe. Der Mann habe das Mädchen über Jahre physisch und psychisch missbraucht. Als die Klientin es nicht mehr ausgehalten habe, habe sie sich an das Ministerium für Frauenangelegenheiten gewandt, das sie an WAW weiterverwiesen habe. Sie lebe jetzt in einem Frauenhaus von WAW und ihr Anwalt arbeite daran, dass sie sich scheiden lassen könne:

„In 2013, one of Women for Afghan Women's clients was 17 years old when she was married to a man who already had a wife and children. The man physically and mentally abused her for years. Unable to endure more, the client decided to divorce him. She went to the local Department of Women’s Affairs who referred her to WAW. This woman is currently living in a WAW shelter and attending empowerment classes while her defense lawyer is working on her divorce.“ (WAW, ohne Datum a)

In einem weiteren undatierten Eintrag gibt WAW an, dass die Organisation selbst die NGO sei, die die meisten Unterkünfte für Frauen und Kinder anbiete. WAW betreibe Rechtshilfezentren, Notfallunterkünfte sowie langfristige Unterkünfte für Frauen und Kinder in 13 der 34 afghanischen Provinzen:

„In Afghanistan, we operate legal aid centers and emergency and long-term shelters for women and children in 13 of Afghanistan’s 34 provinces. We also conduct human rights trainings to diverse groups, including law enforcement, religious leaders, and community members. Women for Afghan Women is the largest shelter-providing NGO in Afghanistan, and because of our capacity and track record, we often receive the most extreme cases of human rights violations.“ (WAW, ohne Datum b)

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 13. Oktober 2017)

·      AA - Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 19. Oktober 2016

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Gesetze, Schutzeinrichtungen und Initiativen gegen Zwangsverheiratungen und Ehrenmorde [a-8797-2 (8798)], 25. August 2014 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/local_link/288321/422704_de.html

·      BZ - Ministerie van Buitenlandse Zaken: Algemeen Ambtsbericht Afghanistan, 15. November 2016
https://coi.easo.europa.eu/administration/netherlands/PLib/Afghanistan_COI.pdf

·      CGRS - Center for Gender & Refugee Studies: Breaking Barriers Challenges to Implementing Laws on Violence Against Women in Afghanistan and Tajikistan with special consideration of displaced women, April 2016
https://drc.ngo/media/2470176/breaking-barriers_challenges-to-implementing-laws-on-violence-in-afghanistan-and-tajikistan-with-special-consideration-of-diasplaced-women.pdf

·      DIS - Danish Immigration Service: Afghanistan; Country of Origin Information for Use in the Asylum Determination Process; Report from Danish Immigration Service’s fact finding mission to Kabul, Afghanistan; 25 February to 4 March 2012, 29. Mai 2012
http://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/3FD55632-770B-48B6-935C-827E83C18AD8/0/FFMrapportenAFGHANISTAN2012Final.pdf

·      EASO - European Asylum Support Office: EASO Country of Origin Information Report Afghanistan; Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City, August 2017 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1503567243_easo-coi-afghanistan-ipa-august2017.pdf

·      France 24: The place in Afghanistan where it’s “easy to kill women”, 13. April 2017
http://observers.france24.com/en/20170413-place-afghanistan-where-it%E2%80%99-%E2%80%9Ceasy-kill-women%E2%80%9D

·      IWPR - Institute for War and Peace Reporting: Child Marriage Rife in Northern Afghanistan - Tribal elders say that most girls are married off before the age of 14., 7. November 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/local_link/331552/472789_de.html

·      N-TV: Mob tötet unverheiratetes afghanisches Paar, 12. Februar 2017
http://www.n-tv.de/panorama/Mob-toetet-unverheiratetes-afghanisches-Paar-article19699079.html

·      PAN - Pajhwok Afghan News: Inside shelters for victims of domestic violence, 7. März 2017
https://www.pajhwok.com/en/2017/03/07/inside-shelters-victims-domestic-violence

·      USDOS - US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2016 - Afghanistan, 3. März 2017 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/local_link/337140/479904_de.html

·      VOA - Voice of America: Invisible Taliban Child Brides, Widows Trapped as Sex Slaves, 23. August 2017
https://www.voanews.com/a/invisible-taliban-child-brides-widows-trapped-sex-slaves/3998004.html

·      WAW - Women for Afghan women: Women's Shelters, ohne Datum a
http://www.womenforafghanwomen.org/women-s-shelters

·      WAW - Women for Afghan women: About WAW, ohne Datum b
http://www.womenforafghanwomen.org/copy-of-about-waw-1