Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Konsequenzen, wenn die Familie eines Mädchens Brautwerber ablehnt [a-10339]

29. September 2017

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Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN), antwortete in einer E-Mail-Auskunft vom 27. September 2017, auf die Frage, ob die Ablehnung eines Brautwerbers zu einer Feindschaft zwischen der Familie des Mädchens und der Familie des Brautwerbers führen könne, dass es dafür zahlreiche Fälle als Beleg gebe. Die entstehende Feindschaft zwischen den Familien müsse nicht in allen Fällen, könne aber zu Gewalt führen; davon könnten sowohl die Tochter als auch die Eltern und Geschwister betroffen sein. (Ruttig, 27. September 2017)

 

Die dänische Einwanderungsbehörde (Danish Immigration Service, DIS) schreibt in einem Fact-Finding-Mission-Bericht vom Mai 2012 unter Berufung auf das afghanische Ministerium für Frauenangelegenheiten, dass junge Männer und Frauen, die soziale Normen in Bezug auf Heirat verletzen würden, indem sie sich etwa einer Zwangsehe widersetzen würden, in Afghanistan mit „riesigen“ Problemen konfrontiert seien:

„MoWA stated that young men and women, who are breaking social norms with regard to marriage, including rejecting a forced marriage, are facing huge problems in Afghanistan.” (DIS, 29. Mai 2012, S. 35)

Die britische Tageszeitung The Telegraph erwähnt in einem Artikel vom Dezember 2012, dass die Polizei im Vormonat zwei Männer in Kundus festgenommen habe, weil diese ein Mädchen nach der Ablehnung eines Heiratsantrags durch ihren Vater enthauptet hätten:

„Yet the reality suggests many women still live with the daily fear of violence. Last month police said they arrested two men in Kunduz for allegedly beheading a teenage girl after her father rejected a marriage proposal.“ (The Telegraph, 11. Dezember 2012)

Das Institute for War and Peace Reporting (IWPR), ein in London ansässiges internationales Netzwerk zur Förderung freier Medien, erwähnt in einem Artikel vom März 2015 den Fall einer Frau namens Mumtaz. Diese hsabe, ihrer eigenen Schilderung zufolge, drei Jahre zuvor Zuflucht in einem Frauenhaus gefunden, nachdem ihr Vater den Heiratsantrag eines Mannes abgelehnt habe, der ihr dann zusammen mit Komplizen Säure ins Gesicht geschüttet habe.

„In Kunduz to the north of Kapisa, a woman called Mumtaz described how she was saved by going to a shelter there three years ago. After her father rejected a marriage proposal, the man concerned turned up at the house with a group of armed accomplices and threw acid on Mumtaz’s face. ‘After that incident, I had to seek asylum in the women’s shelter. Thanks to the [safe] house, I have been sent to India for treatment three times,’ she told the audience, adding that without the help she had received, she would not be alive now.“ (IWPR, 11. März 2015)

Die US-amerikanische Tageszeitung New York Times (NYT) berichtet im August ebenfalls über den Fall von Mumtaz. Diese sei im Alter von 18 Jahren Opfer eines Säureangriffs geworden. Ihre Angreifer seien damals ins Gefängnis gekommen. Die Gerechtigkeit, die der Frau widerfahren sei, habe ihr aber nur Unglück gebracht. Einen Monat vor Veröffentlichung des Artikels sei sie zur Witwe geworden, weil die Verwandten ihrer Angreifer ihren Ehemann getötet hätten. Der Großteil von Mumtaz‘ Familie, darunter ihre Eltern und alle ihre Geschwister, seien in einem türkischen Flüchtlingslager. Sie selbst lebe bei der Familie ihres getöteten Mannes, die nun aber aus Angst, selbst getötet zu werden, ihre Felder nicht bestellen könnten.

Die Säureattacke auf Mumtaz habe sich 2011 ereignet. Der Anführer einer damals regierungsfreundlichen Miliz habe behauptet, sie sei ihm als Frau versprochen gewesen. Als Mumtaz beschlossen habe, einen anderen Mann zu heiraten, sei er in Wut geraten und habe sie und ihre Familie zusammen mit anderen Mitgliedern der Miliz angegriffen. Mumtaz, ihre beiden Schwestern und ihre Mutter seien mit Säure übergossen worden, Mumtaz‘ Gesicht sei schwer entstellt worden. In diesem Fall seien die Behörden eingeschritten. Vier Verbündete des Milizführers seien verhaftet und unter dem Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden, ohne Möglichkeit einer Aussetzung der Strafe auf Bewährung. Mumtaz und eine ihrer Schwestern seien für Gesichtswiederherstellungsoperationen nach Indien geschickt worden. Mumtaz habe Angst davor gehabt, dass ihr Verlobter sie nicht mehr wolle, dieser habe sie aber geheiratet und drei Jahre später hätten sie eine Tochter bekommen.

Fünf Monate vor Veröffentlichung des Artikels sei der abgewiesene Brautwerber, Naseer, der den Angriff von 2011 geleitet habe, gefasst worden. Es drohe ihm eine lange Haftstrafe. Doch damit habe sich Mumtaz‘ Schicksal gewendet. Ihr Kampf verdeutliche, wie wenig Kontrolle die afghanische Regierung über große Gebiete Afghanistans habe.

Mumtaz‘ Dorf im ländlichen Kundus sei von den Taliban überrannt worden und die Mitglieder der Miliz, die vorher Naseer gefolgt seien, hätten sich den Taliban angeschlossen. Mumtaz‘ Vater, Sultan Mohammed, habe Forderungen der Verwandten von Naseer abgelehnt, die Anschuldigungen gegen Letzteren und seine Männer zurückzuziehen. Daraufhin sei sein älterer Bruder entführt worden und erst nach Intervention von Dorfältesten wieder freigekommen. Sultan Mohammed sei von Naseers Leuten schwer zusammengeschlagen worden und habe beschlossen, das Land zu verlassen. Er habe geglaubt, seine Tochter und sein Schwiegersohn würden in Ruhe gelassen. Nach Mumtaz‘ Angaben sei ihr Mann auf dem Nachhauseweg von der Arbeit gewesen, als er von Naseers Bruder und einem anderen Mann aufgehalten und erschlagen worden sei. Beiden Männern werde Mord vorgeworfen, aber sie seien nicht verhaftet worden, weil die Behörden keinen sicheren Zugang zu dem Gebiet hätten. Mumtaz tue es leid, dass sie gegen ihre Angreifer vorgegangen sei. Sie bedauere, dass sie ihnen nicht verziehen habe, bevor sie ihren Mann getötet hätten:

„Mumtaz is a 23-year-old woman from the northern Afghan province of Kunduz, the victim of an acid attack when she was 18, whose tormentors were jailed. […]

But as far as Mumtaz is concerned, justice has brought her nothing but tragedy. Last month she was widowed, her husband killed by relatives of her attackers. […] Most of Mumtaz’s own family, including her parents and all of her siblings, are now stuck in a Turkish refugee camp, unable to send her anything. She lives with her dead husband’s family, who are just as poor, and now unable to work their fields for fear of being killed themselves. […]

Mumtaz was the victim of a notorious 2011 acid attack. The leader of what was then a pro-government militia, who claimed she had been promised to him as his wife, became infuriated when she decided to marry someone else. With fellow militia members, he attacked her and her family, dousing Mumtaz, her two teenage sisters and her mother with acid and badly disfiguring Mumtaz’s face.

As horrific as that was, Mumtaz and her family at least saw some justice done for an act that normally would have gone unpunished. The authorities stepped in, using newly granted powers and stiff sentencing under the country’s landmark Elimination of Violence Against Women Act, and arrested four confederates of the militia leader, jailing them for 12 years with no hope of parole.

Mumtaz and one of her sisters were sent to India for facial reconstruction surgery. Despite her worst fears that her fiancé would no longer want her, he married her when she returned. Three years later, their daughter Asma was born. Five months ago, the spurned suitor who led the 2011 attack, Naseer, was caught and arrested and now faces a long prison sentence. That was when Mumtaz’s fortunes, which had been looking brighter, took a turn for the worse. Her struggles underscore how little control the national government has over large areas of Afghanistan.

Her family’s village in rural Kunduz Province was overrun by the Taliban, and the militiamen who followed Naseer joined the insurgents; many of the numerous armed groups in Afghanistan change sides depending on who dominates their area.

Mumtaz’s father, Sultan Mohammed, refused demands from Naseer’s relatives to withdraw the charges against him and his men, so they kidnapped his older brother, who was released after village elders intervened.

Sultan Mohammed, badly beaten up by Naseer’s men, decided to flee his country. ‘I could not fight them, and I could not stay there, so I took my entire family and escaped to Turkey,’ he said. ‘I fled thinking they won’t do any harm to my son-in-law and my daughter.’ […]

Mumtaz said her husband, 27, had been on his way home last month from his work as a taxi driver when Naseer’s brother, Zabih, and another man, Baba, stopped Mr. Khan, dragged him out of the car and beat him to death with the butts of their rifles. Both men have been charged with murder but have not been arrested because the authorities cannot safely visit the area. Now Mumtaz is sorry she ever pressed charges against her tormentors. ‘I regret that I didn’t pardon them before they killed my husband,’ she said. ‘They had been begging for that, but we were late to do it, so it cost me the life of my husband.’“ (NYT, 13. August 2017)

Die afghanische Online-Zeitung Khaama Press (KP) meldet im November 2015, dass ein Mädchen von Männern, die einem lokalen Kommandanten gegenüber loyal seien, gesteinigt worden sei. Das Mädchen sei Berichten zufolge auf Anweisung von Mullah Yousuf ermordet worden, nachdem sie sich geweigert habe, seinen Bruder zu heiraten. Berichten zufolge seien 20 Personen identifiziert worden, die an dem Mord beteiligt gewesen sein sollen, es gebe aber keine Nachrichten bezüglich ihrer Verhaftung:

„The family of Rukhshana, 19, who was stoned to death earlier this month by men loyal to a local militant commander in Firoz Koh, the provincial capital of Ghor, seeks justice. Rukhshana was brutally killed reportedly by the orders of Mullah Yousuf after she rejected to marry his brother. […]

Rukhshana was innocent, she refused a marriage proposal after which armed men came to our home, dragged Rukhshana out, and after a few hours her dead body was brought back, Rukshana’s mother said. According to reports, 20 suspects have been identified who were involved in the brutal murder but there has not been any news about their arrest.“ (KP, 16. November 2015)

Das Ministerie van Buitenlandse Zaken (BZ), die für auswärtige Angelegenheiten zuständige niederländische Regierungsbehörde, schreibt in einem Bericht vom November 2016, dass viele Frauen in den Gefängnissen wegen Zina (Ehebruch oder andere unerlaubte sexuelle Beziehungen) verurteilt worden seien, obwohl sie in Wirklichkeit soziale Normen verletzt hätten, indem sie beispielsweise einen Heiratsantrag abgelehnt hätten:

„Many women in prison have been convicted of zina (adultery or other illicit sexual relations), when in fact they have violated social conventions by running away from home, rejecting a suitor or fleeing domestic violence or rape.“ (BZ, 15. November 2016, S. 71)

Im Februar 2017 berichtet KP, dass offiziellen Medien zufolge ein Mädchen von den Taliban in Anwesenheit ihrer Familie erschossen worden sei, nachdem sie und ihre Familie wiederholt Heiratsanträge des lokalen Talibanführers abgelehnt hätten:

„In the meantime, the provincial government media office in a statement said a young girl was shot dead by the Taliban early on Wednesday in Khambel Yaftal village. The statement further added that the girl was shot dead in the presence of her family after the girl and her family repeated rejected marriage proposal from a local Taliban leader Mawlavi Saifullah.“ (KP, 2. Februar 2017)

Auf dem Blog Free Women Writers, der sich selbst als unparteiische Non-Profit-Organisation auf freiwilliger Basis beschreibt, bestehend aus AutorInnen, StudentInnen und AktivistInnen in Afghanistan und im Ausland, die für ein gerechteres Afghanistan arbeiten würden, findet sich ein Beitrag vom April 2017 zur Lage afghanischer Frauen in der Gesellschaft. Es wird die Geschichte einer Frau namens Hakima erzählt, die einen Mann heiraten müsse, den sie nicht einmal kenne. Ihr Vater habe sie diesem Mann noch vor seinem Tod versprochen. Es gebe ja auch noch ihre Familie, ihre Schwestern und Verwandten. Sie wolle keine Schande über ihren Vater bringen. Nach dem Tod ihres Vaters habe sie den Mann nicht mehr abweisen können. Es habe keinen Mann mehr gegeben, der sich für sie eingesetzt habe. Sie habe einmal bei ihrer Mutter protestiert, dieser habe ihr aber gesagt, dass ihre Schwestern keine Chance mehr hätten, einen guten Mann zu finden, sollte sie die Hochzeit verweigern:

„Here are the stories of two women whose lives were shaped by this common phrase, ‘What would people say’.

‘I didn’t want to get married to him. I didn’t like him. I didn’t even know him!’ says Hakima. ‘Why did you agree to it then?’ asks Najia. ‘I couldn’t say no. My family, my sisters, my relatives… I didn’t want to bring shame to my father. You know, he had promised that I would be married to Abdul. It happened before he died. I couldn’t reject him after I lost my dad. I had no man standing up for me. I felt so alone.’ ‘Did you tell your mother?’ ‘I protested once in front of my mother. She was already heartbroken from becoming a widow at such a young age and having to raise three girls on her own. My mother just stared at me and said, ‘If you don’t go ahead with this marriage, your sisters won’t have a chance of finding good husbands. And what would people say?’’“ (Free Women Writers, 25. April 2017)

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 29. September 2017)

·      BZ - Ministerie van Buitenlandse Zaken: Algemeen Ambtsbericht Afghanistan, 15 November 2016
https://www.rijksoverheid.nl/binaries/rijksoverheid/documenten/ambtsberichten/2016/11/15/algemeen-ambtsbericht-afghanistan/algemeen ambtsbericht Afghanistan november 2016.pdf

·      DIS - Danish Immigration Service: Afghanistan; Country of Origin Information for Use in the Asylum Determination Process; Report from Danish Immigration Service’s fact finding mission to Kabul, Afghanistan; 25 February to 4 March 2012, 29. Mai 2012
http://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/3FD55632-770B-48B6-935C-827E83C18AD8/0/FFMrapportenAFGHANISTAN2012Final.pdf

·      Free Women Writers: ‘What would people say?’—A phrase that harms Afghan women, 25. April 2017
https://www.freewomenwriters.org/people-say-afghan-women/

·      IWPR - Institute for War and Peace Reporting: Safe Houses for Afghan Women, 11. März 2015
https://iwpr.net/global-voices/safe-houses-afghan-women

·      KP - Khaama Press: Rukhshana’s family seeks justice, 16. November 2015
http://www.khaama.com/rukhshana-family-seeks-justice-4124

·      KP - Khaama Press: Taliban kill pregnant woman, execute another girl for rejecting marriage proposa, 2. Februar 2017
http://www.khaama.com/taliban-kill-pregnant-woman-execute-another-girl-for-rejecting-marriage-proposal-02791

·      NYT - New York Times: Years After Acid Attack, an Afghan Story of Survival Takes a Dark Turn, 13. August 2017
https://www.nytimes.com/2017/08/13/world/asia/afghanistan-womens-rights-acid-attack.html

·      Ruttig, Thomas: E-Mail-Auskunft, 27. September 2017

·      The Telegraph: Afghanistan women 'still suffering horrific abuse', 11. Dezember 2012
http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/asia/afghanistan/9736427/Afghanistan-women-still-suffering-horrific-abuse.html