Document #1349992
ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (Author)
Nach einer Recherche in unserer Länderdokumentation und im Internet können wir Ihnen zu oben genannter Fragestellung Materialien zur Verfügung stellen, die unter anderem folgende Informationen enthalten:
Die russische Verfassung schreibt in Artikel 27 der Verfassung das Recht auf Bewegungsfreiheit grundsätzlich fest:
„58. The Russian Constitution states in Article 27
(1) Everyone who is lawfully staying on the territory of Russian Federation shall have the right to freedom of movement and to choose the place to stay and reside.
(2) Everyone shall be free to leave the boundaries of the Russian Federation. The citizens of the Russian Federation shall have the right to freely return into the Russian Federation."
In einer Stellungnahme an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom Oktober 2003 (siehe auch englische Passage vom Mai 2004) fasst UNHCR die wichtigsten Bestimmungen über das Recht der Freizügigkeit und die Wahl des Aufenthalts- und Wohnortes im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation vom 25. Juni 1993 zusammen:
„Durch das Gesetz der Russischen Föderation über die Freizügigkeit und die Wahl des Aufenthalts- und Wohnortes im Hoheitsgebiet der Russischen Föderation vom 25. Juni 1993 (Föderationsgesetz Nr. 5242/1) wurde ein Registrierungssystem eingeführt, demzufolge die Bürger den örtlichen Dienststellen des Innenministeriums ihren Wohnsitz (sog. "dauerhafte Registrierung") und - falls davon abweichend - ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort (sog. "vorübergehende Registrierung") nurmehr melden müssen. Hierdurch sollte das frühere "Propiska"-System abgelöst werden, das die Polizeibehörden zur Entscheidung über die Gestattung oder Verweigerung des Aufenthaltes oder der Niederlassung einer Person an einem bestimmten Ort ermächtigte.“ (UNHCR, 29. Oktober 2003, S. 1-2; siehe auch UNHCR, 14. Mai 2004, Abs. 58-59)
UNHCR, USDOS, Amnesty International (AI) konstatieren jedoch, dass der Übergang vom "Propiska"- zu diesem neuen Registrierungssystem in der Praxis nicht geglückt sei und sich örtliche Behörden in der gesamten Russischen Föderation vielmehr die Entscheidung darüber vorbehielten, die Modalitäten der Umsetzung des Rechts auf Freizügigkeit und der Wahl des Aufenthalts- oder Wohnorts festzulegen (UNHCR, 29. Oktober 2003, S. 2; UNHCR, 14. Mai 2004, Par. 62; USDOS, 25. Februar 2004, Sek. 2d; AI, 31. März 2004). In der deutschsprachigen Stellungnahme von UNHCR heißt es in diesem Zusammenhang:
„Der Übergang vom "Propiska"- zu diesem neuen Registrierungssystem ist in der Praxis jedoch nicht geglückt. Örtliche Behörden in der gesamten Russischen Föderation behalten sich vielmehr die Entscheidung darüber vor, die Modalitäten der Umsetzung des Rechts auf Freizügigkeit und der Wahl des Aufenthalts- oder Wohnorts festzulegen, mit der Folge, daß aufgrund restriktiver örtlicher Vorschriften und Verwaltungspraktiken vielerorts faktisch eine Situation fortbesteht die weitgehend der unter der Geltung des alten "Propiska"-Systems entspricht. Mitursächlich für diese Situation ist das teilweise Versagen der staatlichen Organe, die für die Überprüfung der Rechtsmäßigkeit von Verwaltungsakten zuständig sind, entsprechende Verstöße gegen das Föderationsgesetz effektiv zu korrigieren .“ (UNHCR, 29. Oktober 2003, S. 1-2)
UNHCR weist in dieser Passage explizit darauf hin, dass diese Praxis insbesondere für tschetschenische Binnenflüchtlinge bewirke, dass sie in ihrer Möglichkeit, sich außerhalb von Tschetschenien rechtmäßig niederzulassen, stark eingeschränkt sind (UNHCR, 29. Oktober 2003, S. 1-2):
„Die Ausprägung dieser bereits mehrfach durch den Verfassungsgerichtshof und den Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation bzw. Ombudsmann als rechtswidrig deklarierten Rechtspraxis unterliegt lokalen Abweichungen und wird in der Tat als besonders gravierend in Bezug auf die von Ihnen benannten Großstädte berichtet. Da UNHCR allerdings aus allen Landesteilen der Russischen Föderation, in denen tschetschenische Volkszugehörige nach unseren Erkenntnissen tatsächlich leben, Berichte über die Verweigerung der Registrierung des Aufenthaltsortes oder Wohnsitzes tschetschenischer Volkszugehöriger vorliegen, geht unser Amt insoweit von einer generellen Problematik aus.“
[...]
„Nachdem die Registrierung Voraussetzung für den Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt, zu sozialer Unterstützung, medizinischer Versorgung und zu den Bildungseinrichtungen ist, müssen jene Personen, denen die Registrierung verwehrt wird, versuchen, ihr Überleben unter Vorenthaltung elementarer sozialer Rechte sicherzustellen. Sie sind bei Kontrollen zudem der Willkür staatlicher Bediensteter ausgeliefert.“ (UNHCR, 29. Oktober 2003, S. 1-2)
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe schließt sich in ihrer Stellungnahme zu Asylgewährung, vorläufiger Aufnahme und Wegweisungshindernissen für Asylsuchende aus Tschetschenien ebenfalls oben bereits genannte Darstellung an:
„Wachsende Fremdenfeindlichkeit, eine faktische Unmöglichkeit der Niederlassung und Straffreiheit für Übergriffe gegen TschetschenInnen kennzeichnet deren Situation in anderen Teilen der Russischen Föderation. Die Recht- und Hilflosigkeit der tschetschenischen Vertriebenen in anderen Teilen Russlands liegt in ihrem Status begründet. Das Registrierungswesen der russischen Bürokratie ist das Hauptinstrument, um TschetschenInnen an der Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit und freie Wahl des Wohnsitzes zu hindern. Auch die Registrierung als Binnenflüchtling wird TschetschenInnen regelmässig verwehrt. Aufgrund der derzeit anti-tschetschenischen Stimmung sind Angehörige dieser Gruppe verstärkt staatlicher Willkür ausgesetzt. TschetschenInnen in Russland müssen sich wie TouristInnen in Ein- oder Dreimonatsabständen neu registrieren lassen. Aus allen Regionen wird über Verweigerung der Registrierung berichtet. Häufig sind Registrierungsversuche von Beleidigungen, Demütigungen und Verhaftungen begleitet. Es ist gegenüber TschetschenInnen durch staatliche Stellen - vor allem das Innenministerium und den russischen Sicherheitsdienst FSB - zu willkürlichen und brutalen Übergriffen gekommen. Sie wurden festgenommen, geschlagen und gefoltert und können nicht darauf hoffen, dass diese Übergriffe durch eine unparteiische Justiz geahndet werden.“ (SFH, 8. Juli 204, S. 4)
Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) bestätigt in einer Stellungnahme vom März 2004 zur Situation tschetschenischer Flüchtlinge auf dem Territorium der Russischen Föderation
„Am schwierigsten überhaupt ist die Registrierung in Moskau. Hier gibt es eine Praxis, die das Ziel hat, es den tschetschenischen Flüchtlingen praktisch unmöglich zu machen, sich registrieren zu lassen. Aus Moskau ist bekannt, dass allein der Versuch, sich als Tschetschene oder als Tschetschenin in Moskau registrieren zu lassen, von Beleidigungen und Demütigungen begleitet ist. Nicht selten kommt es zu willkürlichen Verhaftungen und regelmäßig zur Befragung in Bezug auf die Loyalität des Registrierungswilligen gegenüber der Moskauer Regierung (s. die ähnliche Praxis bei der Anerkennung des Zwangsumsiedlerstatus unter 3.A).“ (GfbV, März 2004, S. 4; für Einzelfallbeispiele konsultieren Sie bitte die entsprechenden Passagen).
Nachstehend finden Sie darüber hinaus die für Sie relevanten Passagen aus dem USDOS-Bericht 2003:
“The Constitution provides citizens with the right to choose their place of residence freely; however, some regional governments continued to restrict this right through residential registration rules that closely resembled the Soviet-era "propiska" (pass) regulations. Although authorities justified the rules as a notification device rather than a control system, their application produced many of the same restrictive results as the "propiska" system. Citizens must register to live and work in a specific area within 7 days of moving there. Citizens changing residence within the country as well as persons with a legal claim to citizenship, who decide to move to the country from other former Soviet Republics, often faced great difficulties or simply were not permitted to register in some cities. Corruption in the registration process in local police precincts remained a problem. Police demanded bribes when processing registration applications and during spot checks for registration documentation. The fees for permanent and temporary registration remained low. The Government and city governments of Moscow and other large cities defended registration as necessary in order to control crime, keep crowded urban areas from attracting even more inhabitants, and earn revenue. Despite nearly 4 years of litigation, Moscow’s registration requirement remained in effect, and the practice--which police reportedly used mainly as a means to extort money--continued at year’s end.” (USDOS, 25. Februar 2004, Sek. 2d)
Die grundsätzliche Situation tschetschenischer Flüchtlinge in der Russischen Föderation fasst die GfbV in ihrer Stellungnahme vom März 2004 wie folgt zusammen:
„Die Tendenz ist eindeutig: Die Flüchtlinge aus Tschetschenien haben grundsätzlich nirgendwo in der Russischen Föderation die Möglichkeit, als Zwangsumsiedler anerkannt zu werden. Auch über erfolgreiche Registrierungen wird nur in Ausnahmefällen berichtet. Die Flüchtlinge aus Tschetschenien befinden sich in einer katastrophalen finanziellen, sozialen und wirtschaftlichen Lage. Vielerorts wird ihnen die medizinische Versorgung wegen der fehlenden Registrierung verweigert. Die Kinder werden häufig aus demselben Grund nicht in die Schulen aufgenommen. Am gravierendsten sind jedoch die täglichen Schikanen, Diskriminierungen und Demütigungen. Eine ganze ethnische Gruppe wird kriminalisiert und es kommt regelmäßig zu willkürlichen Festnahmen. Es ist nicht davon auszugehen, dass die tschetschenischen Flüchtlinge ihre elementarsten Grundbedürfnisse innerhalb der russischen Föderation befriedigen können. Besonders besorgniserregend ist in den letzten Monaten die Tendenz, die Flüchtlinge zu einer Rückkehr nach Tschetschenien zu zwingen, wo ihnen Gefahr für Leib und Leben droht. Im Falle einer Abschiebung eines Tschetschenen aus Deutschland kann man somit nicht mehr davon ausgehen, dass er längere Zeit innerhalb der Russischen Föderation leben kann, sondern man muss sich mit der Gefahr auseinander setzten, dass er von den russischen Behörden zur Rückkehr nach Tschetschenien gezwungen wird. Zusammenfassend kommt die Gesellschaft für bedrohte Völker zu dem Schluss, dass es für Tschetschenen keine innerstaatliche Fluchtalternative innerhalb der russischen Föderation gibt.“ (GfbV, März 2004, S. 15-16)
Die SFH behandelt in ihrem Bericht „Tschetschenien und die tschetschenische Bevölkerung in der Russischen Föderation“ vom 24. Mai 2004 das Thema interne Fluchtalternative für tschetschenische Binnenvertriebene in einem eigenen Kapitel. Bitte konsultieren Sie hierfür die Seiten 15-23 (SFH, 24. Mai 2004, S. 15-23). Weitere Informationen zur sozialen Lage tschetschenischer Flüchtlinge in anderen Teilen der Russischen Föderation finden Sie auch in der Stellungnahme der GfbV vom März 2004 auf den Seiten 7-8.
Das Institute for War and Peace Reporting (IWPR) berichtet im Februar 2004, dass seit der Bombenexplosion vom 6. Februar 2004 in Moskau die Phobie gegen Personen kaukasischer Herkunft weiter zugenommen habe. Laut IWPR sollen im Radio und der Presse Forderungen laut geworden sein, Personen aus dem Kaukasus den Aufenthalt in der Stadt zu verbieten (IWPR, 13. Februar 2004). USDOS berichtet darüber hinaus von glaubhaften Berichten, denen zufolge Personen kaukasischen Aussehens von den Sicherheitskräften regelmäßig zur Überprüfung der Dokumente angehalten, teilweise verhaftet und erpresst würden. Zudem erwähnt das USDOS Berichte lokaler NGOs, wonach Gruppen tschetschenischer Männer an Checkpoints entlang der Grenzen üblicherweise festgenommen oder während so genannter Sonder- als auch gezielter Operationen (letztere vor allem nächtens) geschlagen und gefoltert würden (USODS, 25. Februar 2004, Sek. 1d). Konsultieren Sie hierzu bitte auch die Paragraphen 55-56 des UNHCR Berichts "Basis of Claims and Background Information on Asylum-seekers and Refugees from the Russian Federation" vom 14. Mai 2004 (siehe Referenzliste).
Die GfbV führt im Zusammenhang mit ethnisch motivierter Diskriminierung von tschetschenischen Binnenflüchtlingen in anderen Teilen der Russischen Föderation eine Reihe von Fallbeispielen an. Auf den Seiten 10 bis 13 finden Sie relevante Passagen zu Themen wie Unterschieben krimineller Handlungen, willkürlichen Untersuchungen und Festnahmen und Medienkampagnen gegen Tschetschenen (GfbV, März 2004, S. 10-13).
Sowohl UNHCR, die GfbV, AI als auch die SFH äußern sich in den uns vorliegenden Berichten zur Rückkehr tschetschenischer Asylsuchender in die RF bzw. zur Gefahr der erzwungenen Rückkehr nach Tschetschenien. Informationen hierzu finden Sie in den folgenden Passagen: UNHCR, 29. Oktober 2003, S. 3-4; SFH, 24. Mai 2004, S. 23-24; GfbV März 2004, S. 8-10; AI, 31. März 2004.
Diese Informationen beruhen auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen. Die Antwort stellt keine abschließende Meinung zur Glaubwürdigkeit eines bestimmten Asylansuchens dar.