Amnesty International Report 2014/15 - The State of the World's Human Rights - Tunisia

Amnesty Report 2015

Tunesien

 

 

Die im Januar 2014 verabschiedete neue Verfassung umfasste maßgebliche Garantien für die Einhaltung der Menschenrechte. Trotzdem schränkten die Behörden die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit nach wie vor ein. Es gab erneut Berichte über Folter von Häftlingen, und mindestens zwei Menschen wurden Opfer von rechtswidrigen Tötungen durch Polizeikräfte. Die neue Verfassung enthielt zwar verbesserte Bestimmungen für den Schutz von Frauenrechten, vermochte jedoch weder die gesetzliche und faktische Diskriminierung von Frauen zu beenden noch Gewalt gegen Frauen einzudämmen.

Ein neues Verfahren zur Ahndung von Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit trat in Kraft. Demgegenüber setzte jedoch ein Militärberufungsgericht das Strafmaß für zwei ehemalige hohe Beamte beträchtlich herab. Die Männer waren für schuldig befunden worden, während der Massenunruhen von 2010/11 für Hunderte rechtswidrige Tötungen verantwortlich gewesen zu sein. Tunesien hielt seine Grenzen für Flüchtlinge aus Libyen offen. Bewaffnete Gruppen führten Angriffe durch und töteten Angehörige der Sicherheitskräfte. Mindestens zwei Personen wurden zum Tode verurteilt; Hinrichtungen fanden nicht statt.

Hintergrund

Die Attentate auf zwei Politiker des linken Flügels - Chokri Belaid und Mohamed Brahmi - im Februar und Juli 2013 lösten eine politische Krise aus. Nach deren Beilegung einigten sich alle politischen Parteien Tunesiens darauf, eine neue Verfassung zu erarbeiten und zu Beginn des Jahres 2014 eine neue Übergangsregierung zu ernennen. Am 5. März 2014 hob die neue Regierung den Notstand auf, der seit 2011 in Kraft gewesen war.

Nach monatelangem Stillstand und der Einigung der Delegierten auf einen Kompromiss in den strittigsten Fragen verabschiedete die Nationale Verfassunggebende Versammlung (Assemblée Nationale Constituante - ANC) am 26. Januar 2014 die neue Verfassung mit großer Mehrheit. Drei Tage später übernahm die neue Übergangsregierung bis zu den Parlamentswahlen im Oktober 2014 und den Präsidentschaftswahlen im November 2014 die Amtsgeschäfte.

Die neue Verfassung garantierte die wichtigsten Menschenrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Rechte auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das Recht, politische Parteien zu gründen, das Recht auf Bewegungsfreiheit, das Recht auf Staatsbürgerschaft und das Recht auf Unversehrtheit der Person.

Die Verfassung garantierte auch den Schutz vor willkürlicher Inhaftierung sowie die Rechte auf ein faires Gerichtsverfahren und auf politisches Asyl. Folter wurde verboten, und Verjährungsfristen, die eine strafrechtliche Verfolgung wegen Folter verhindern könnten, dürfen nicht zur Anwendung kommen. Weitere Artikel der Verfassung, wie z.B. ein Artikel zu "Angriffen auf das Heilige" warfen Probleme auf, weil sie das Recht auf freie Meinungsäußerung beeinträchtigen könnten. Mit der Verfassung ging keine Abschaffung der Todesstrafe einher.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Die Regierung legte der ANC einen aus 163 Paragraphen bestehenden Gesetzentwurf zur Änderung des Antiterrorgesetzes von 2003 vor, mit dessen Prüfung die ANC im August 2014 begann. Einige der drakonischsten Bestimmungen des Gesetzes aus dem Jahr 2003 sollen in diesem neuen Gesetz gestrichen werden.

Im Oktober teilte Ministerpräsident Jomaa mit, dass die Behörden seit Jahresbeginn über 1500 mutmaßliche "Terroristen" festgenommen hätten.

Folter und andere Misshandlungen

Erneut gingen Berichte über Folter von Gefangenen in Polizeigewahrsam ein. Die meisten Häftlinge waren in den ersten Tagen ihrer Untersuchungshaft und während der Verhöre misshandelt worden. Mindestens ein Gefangener kam unter ungeklärten Umständen in der Haft ums Leben. Das Gesetz erlaubte es der Polizei, Verdächtige noch vor der Anklageerhebung bis zu sechs Tage ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand oder Familienangehörigen zu inhaftieren.

Nach seinem Besuch in Tunesien im Juni 2014 äußerte sich der UN-Sonderberichterstatter über Folter besorgt darüber, dass es immer noch Folter und Misshandlungen von Gefangenen gebe, und wies auf die geringe Zahl erfolgreicher strafrechtlicher Verfolgungen von Verantwortlichen hin.

2013 verabschiedete die ANC ein Gesetz zur Bildung einer 16-köpfigen nationalen Einrichtung zur Verhütung von Folter. Dieses Gremium war befugt, Haftanstalten ohne vorherige Erlaubnis zu kontrollieren, es sei denn, dringende und triftige Gründe sprächen dagegen. Ende 2014 stand die Einrichtung des Gremiums noch immer aus.

Am 3. Oktober 2014, neun Tage nach seiner Festnahme, starb Mohamed Ali Snoussi in einem Krankenhaus. Der Fall lenkte erneut die Aufmerksamkeit auf polizeiliche Gewaltanwendung gegen Verdächtige und auf die anhaltende Unfähigkeit der Regierung, dagegen vorzugehen. Zeugen hatten beobachtet, wie Snoussi in Handschellen von vermummten Polizeibeamten aus seinem Haus gezerrt worden war.

Die Polizisten, die angaben, der Polizeibrigade 17 anzugehören, hätten ihn geschlagen, nackt ausgezogen und mitgenommen. Mohamed Ali Snoussis Ehefrau sagte aus, sie hätte ihn einmal kurz in Polizeigewahrsam besuchen dürfen und sichtbare Spuren von Schlägen an seinem Körper bemerkt. Er habe ihr jedoch aus Angst nicht gesagt, woher diese Verletzungen rührten.

Als Mohamed Ali Snoussis Leichnam der Familie übergeben wurde, wies der Körper Blutergüsse und andere Verletzungen am Kopf, an den Schultern, am Rücken, an den Hoden und an den Füßen auf. Das Innenministerium teilte mit, dass Snoussi wegen Drogendelikten festgenommen worden sei und eine Autopsie ergeben habe, dass sein Tod nicht auf Gewalteinwirkung zurückzuführen sei. Die Familie forderte die Herausgabe des Autopsieberichts, die Regierung kam dem Ansuchen jedoch nicht nach.

Exzessive Gewaltanwendung

Polizisten erschossen in der Nacht des 23. August 2014 zwei Frauen, Ahlem Dalhoumi und Ons Dalhoumi, als diese in der Stadt Kasserine mit Familienangehörigen nach Hause fuhren. Zu der Schießerei war es gekommen, als schwarzgekleidete Polizisten, die von den Insassen des Autos offenbar für bewaffnete Straßenräuber gehalten wurden, den Wagen anhalten wollten.

Sie eröffneten das Feuer, als das Auto weiterfuhr, töteten die beiden Frauen und verletzten eine weitere. Die Behörden gaben an, die Polizisten hätten das Feuer eröffnet, weil der Fahrer ihrer Aufforderung anzuhalten nicht nachgekommen und auf sie zugerast sei.

Die überlebenden Insassen des Wagens sagten aus, die Polizisten hätten sich nicht ausgewiesen und hätten ohne Vorwarnung auf sie geschossen. Das Innenministerium teilte im Oktober mit, dass man entgegen anderslautender öffentlicher Zusicherungen die Polizisten nicht vom Dienst suspendiert und auch keine Verwaltungsuntersuchung des Vorfalls eingeleitet habe.

Übergangsjustiz

Nach der Verabschiedung eines Übergangsjustizgesetzes im Dezember 2013 wurde im Juni 2014 die unabhängige Kommission für Wahrheit und Würde gegründet, die Menschenrechtsverletzungen nachgehen und in Fällen von Korruption im Amt seit dem 1. Juli 1955 vermitteln soll. Zum Mandat der neuen unabhängigen Einrichtung gehört es auch, Opfern von Menschenrechtsverletzungen materielle und symbolische Wiedergutmachung zukommen zu lassen und Empfehlungen auszuarbeiten, wie Menschenrechtsverletzungen in Zukunft verhindert werden können.

Außerdem untersuchte die Kommission den Missbrauch staatlicher Mittel und sollte die Demokratie fördern. Die Amtszeit des Gremiums umfasst vier Jahre und kann um ein weiteres Jahr verlängert werden. Im Dezember 2014 nahm die Kommission nach Festlegung ihrer Vorgehensmethoden und Regeln ihre Arbeit auf.

Das Übergangsjustizgesetz sieht auch die Bildung von Sonderkammern der Justiz (Chambres de Judicaires Spécialisées) vor, die von staatlichen Akteuren zwischen Juli 1955 und Dezember 2013 begangene Menschenrechtsverletzungen untersuchen und strafrechtlich verfolgen sollen. Im März 2014 berief das Justizministerium einen Arbeitsausschuss für die Ausarbeitung einer Verordnung über die Arbeitsweise der Sonderkammern.

Ab April ließen die Behörden etliche hochrangige frühere Staatsbedienstete frei, die im Zusammenhang mit rechtswidrigen Tötungen von Demonstrierenden während der Proteste in den Jahren 2010/11 inhaftiert worden waren. Ein Militärberufungsgericht hatte die Anklagen, wegen deren sie von einem Militärgericht verurteilt worden waren, abgeändert und ihr Strafmaß herabgesetzt. Unter den Freigekommenen befand sich der ehemalige Innenminister Rafiq Belhaj Kacem, dessen Urteil von 12 Jahren Haft unter Anrechnung seiner Zeit in Untersuchungshaft auf drei Jahre herabgesetzt wurde. Viele Familienangehörige der während der Aufstände getöteten oder verletzten Personen traten aus Protest in einen Hungerstreik.

Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit

Am 17. Juli 2014 griff eine bewaffnete Gruppe in Mount Chaambi nahe der Grenze zu Algerien Regierungstruppen an und tötete 15 Soldaten. Daraufhin schränkten die Behörden die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit ein. Auf Anordnung der Behörden mussten alle nichtgenehmigten Radio- und TV-Sender sofort abgeschaltet werden. Moscheen wurden geschlossen und der Zugang zu sozialen Netzwerken im Internet blockiert.

Organisationen mit mutmaßlichen Verbindungen zu terroristischen Vereinigungen hatten ihre Arbeit einzustellen. Die Regierung drohte damit, alle Personen strafrechtlich zu verfolgen, die Tunesiens Militär- und Sicherheitseinrichtungen in Frage stellten.

Am 22. Juli gab ein Regierungssprecher bekannt, die Behörden hätten die Arbeit von 157 Organisationen und zwei Radiosendern vorübergehend unterbunden, weil diese Einrichtungen Verbindungen zu terroristischen Gruppierungen unterhalten und Gewalt befürwortet hätten. Die Behörden setzten sich damit über das Gesetzesdekret Nr. 2011-88 hinweg, wonach Organisationen nur mit einem gerichtlichen Beschluss suspendiert werden dürfen.

Der Blogger Jabeur Mejri wurde am 4. März 2014 freigelassen. Er war 2012 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, nachdem man ihn für schuldig befunden hatte, Kommentare und Bilder im Internet veröffentlicht zu haben, die eine Beleidigung des Islam und des Propheten Mohammed darstellten. Im April 2014 verurteilte ihn ein Gericht zu einer erneuten achtmonatigen Freiheitsstrafe, weil er sich mit einem Justizbeamten gestritten hatte. Er kam jedoch am 14. Oktober im Rahmen einer Präsidialamnestie frei.

Frauenrechte

Frauen wurden weiterhin durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert. Am 23. April 2014 gab Tunesien offiziell seine Vorbehalte gegenüber der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) auf. Allerdings hielt die Regierung an ihrer generellen Aussage fest, dass es keine organisatorischen oder rechtlichen Schritte im Sinne von CEDAW geben werde, wenn diese im Widerspruch zur tunesischen Verfassung stünden.

Die im Januar 2014 verabschiedete neue Verfassung garantierte einen besseren Schutz von Frauenrechten. Frauen wurden jedoch weiterhin in der Familienrechtsprechung diskriminiert, beispielsweise bei Erbschaften oder dem Sorgerecht für Kinder.
Artikel 46 der Verfassung garantierte Frauen einen besseren Schutz vor Gewalt. Dagegen blieb das Strafgesetzbuch problematisch, insbesondere Paragraph 227b.

Nach diesem Paragraphen können Männer, die ein Mädchen oder eine Frau unter 20 Jahren vergewaltigt haben, straffrei ausgehen, wenn sie ihr Opfer heiraten. Im Juni sagte die Ministerin für Frauen und Familie, dass die Regierung eine neue Rahmengesetzgebung zum Schutz von Frauen und Mädchen gegen Gewalt plane. Die Arbeit werde von einem Expertengremium unterstützt.

Im März 2014 verurteilte ein Gericht zwei Polizeibeamte zu sieben Jahren Gefängnis, nachdem es sie für schuldig befunden hatte, im September 2012 eine Frau vergewaltigt zu haben. Ein dritter Polizist musste zwei Jahre in Haft, weil er den Verlobten der Frau zu einem Geldautomaten gebracht und dort versucht hatte, Geld von ihm zu erpressen. Während der Gerichtsverhandlung beschuldigten die Verteidiger der Polizisten das Opfer und behaupteten, die Frau hätte sich ungebührlich verhalten.

Sie hätte den Polizisten sexuelle Dienste angeboten, nachdem diese sie alleine mit ihrem Verlobten angetroffen hatten. Die Frau legte gegen die relativ milden Urteile Rechtsmittel ein. Im November setzte ein Berufungsgericht das Strafmaß der beiden Vergewaltiger auf 15 Jahre Haft herauf und bestätigte das Urteil gegen den dritten Polizeibeamten.

Rechte von Flüchtlingen und Asylsuchenden

Tausende libysche und andere Staatsangehörige überschritten Berichten zufolge im Juli und August 2014 die tunesische Grenze, um den Kampfhandlungen zwischen rivalisierenden bewaffneten Milizen in Libyen zu entkommen. Die Behörden hielten die Grenze zu Libyen die meiste Zeit über offen, drohten jedoch mit einer Schließung, sollte sich die Sicherheitslage oder die wirtschaftliche Situation verschlechtern. Libyer mit gültigen Reisepapieren durften nach Tunesien einreisen und dort bleiben. Staatsangehörige einiger anderer Länder bekamen lediglich die Erlaubnis für die Durchreise.

Todesstrafe

Die Todesstrafe wurde weiterhin für Mord und andere Verbrechen verhängt. Seit 1991 haben in Tunesien jedoch keine Hinrichtungen mehr stattgefunden. Mindestens zwei Personen wurden 2014 zum Tode verurteilt. Die Todesurteile von wenigstens drei Personen wurden in Haftstrafen umgewandelt.

Im November stimmte Tunesien für eine Resolution der UN-Generalversammlung für ein weltweites Moratorium für die Anwendung der Todesstrafe.

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