Anfragebeantwortung zu Marokko: Verurteilungen wegen außerehelichem Geschlechtsverkehr; Nennung von konkreten Fällen [a-11154-2 (11155)]

19. Dezember 2019

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

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Rechtliche Situation

Laut Artikel 490 des marokkanischen Strafgesetzbuches von 1962 in der Fassung vom September 2011 werden alle Personen unterschiedlichen Geschlechts, die nicht verheiratet sind und Geschlechtsverkehr haben, mit einer Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu einem Jahr bestraft:

„Article 490

Sont punies de l'emprisonnement d'un mois à un an, toutes personnes de sexe différent qui, n'étant pas unies par les liens du mariage, ont entre elles des relations sexuelles.“ (Strafgesetzbuch des Königreichs Marokko 1962, inklusive Novellierungen bis 15. September 2011, Artikel 490)

Artikel 493 des marokkanischen Strafgesetzbuches von 1962 in der Fassung vom September 2011 legt fest, dass als Nachweis einer Straftat nach dem Artikel 490 (und 491, der mit Ehebruch befasst ist) entweder ein schriftlicher Bericht eines Polizeibeamten der Justiz, der Zeuge des Vergehens war, vorliegen muss oder die beschuldigte Person gesteht das Vergehen in schriftlicher Form oder in Form anderer Dokumente oder im Beisein der Polizei:

„La preuve des infractions réprimées par les articles 490 et 491 s'établit soit par procès-verbal de constat de flagrant délit dressé par un officier de police judiciaire, soit par l'aveu relaté dans des lettres ou documents émanés du prévenu ou par l'aveu judiciaire.“ (Strafgesetzbuch des Königreichs Marokko 1962, inklusive Novellierungen bis 15. September 2011, Artikel 493)

In der Gesetzesdatenbank Natlex der International Labour Organization (ILO) finden sich über den Zeitraum bis September 2011 hinaus vier weitere Novellierungen des Strafgesetzbuches, jeweils aus den Jahren 2013, 2014, 2015 und 2016. Sie enthalten keine Änderungen, die sich auf die oben genannten Paragraphen auswirken (ILO, ohne Datum).

In einem Artikel der französischen Tageszeitung Le Monde vom 24. Juli 2019 wird von einem Fall berichtet, in welchem zwei Personen wegen Ehebruchs (nach Artikel 491) angeklagt worden seien, obwohl die Bedingungen, wie in Paragraph 493 vorgegeben, nicht vorgelegen hätten. Le Monde zitiert Khadija Rougani von der NGO Printemps de la Dignité, die sich für rechtlichen Schutz von Frauen vor Diskriminierung und Gewalt einsetzt und kritisiert, dass die Anwendung der Artikel 490 und 491 oft fälschlich ohne die notwendigen Beweise laut Artikel 493 erfolge. Dies geschehe aufgrund von Geisteshaltungen und weil sich die Justizbehörden nicht primär am Gesetz, sondern an der Kultur orientieren würden:

„’Dans les articles 490 à 493, les preuves sont limitées au flagrant délit, aux aveux ou écrits et photos qui concernent la relation sexuelle et pas autre chose. Cependant, leur application est souvent déviée à cause des mentalités, insiste la militante. Le premier référentiel des autorités judiciaires n’est pas la loi mais le culturel.‘“ (Le Monde, 24. Juli 2019)

Verfolgung und Verurteilung nach Paragraph 490

Die englischsprachige marokkanische Zeitung Morocco World News berichtet in einem Artikel von einem am 23. September 2019 veröffentlichten Manifest „We, Moroccan citizens, declare that we are outlaws.“, in dem sich Aktivist/innen gegen die Kriminalisierung von unehelichem Geschlechtsverkehr und Abtreibung aussprechen würden. Das Manifest richtet sich auch explizit gegen den oben angeführten Artikel 490.

Das Manifest beinhaltet auch Zahlen, wonach im Jahr 2018 mehr als 14.500 Personen nach Paragraph 490 strafrechtlich verfolgt und mehr als 3.000 Personen wegen Ehebruchs inhaftiert worden seien:

„Statistics are also presented in bold in the manifesto. Last year, 2018, more than 14.500 people were prosecuted under Article 490. More than 3.000 people were imprisoned for adultery. ‘Every day, between 600 and 800 unsafe abortions are carried out.’” (Morocco World News, 23. September 2019)

Die international tätige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) nennt, unter Berufung auf einen Bericht, der im Juni 2019 vom Büro des Generalstaatsanwalts veröffentlicht worden sei, eine niedrigere Zahl für das Jahr 2018 für Strafverfolgungen von Personen, denen außerehelicher Geschlechtsverkehr vorgeworfen wird:

„In a report released in June, the Office of the General Prosecutor stated that 7,721 adults were prosecuted for having non-transactional sexual relations outside of marriage in 2018. The number includes 3,048 who were charged with adultery, 170 with same-sex relations, and the remainder for sex between unmarried persons.” (HRW, 4. Dezember 2019)

 

In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche weder der von HRW herangezogene Bericht des Generalstaatsanwalts noch andere Quellen, welche Zahlen von Verurteilungen anhand des Paragraphen 490 des marokkanischen Strafgesetzes ausweisen, gefunden werden.

 

Konkrete Verurteilung: der Fall Hajar Raissouni

Am 30. September 2019 wurde die marokkanische Journalistin Hajar Raissouni wegen Abtreibung und sexuellen Beziehungen außerhalb der Ehe zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt (RSF, 17. Oktober 2019; Die Zeit online, 17. Oktober 2019).

Amnesty International vermutet, dass die Verurteilung politisch motiviert und gegen Raissounis journalistische Arbeit gerichtet gewesen sei (AI, 21. November 2019).

Aufgrund der Begnadigung durch König Mohammed VI. kam Hajar Raissouni im Oktober wieder frei (Die Zeit online, 17. Oktober 2019; AI, 21. November 2019).

 

In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine weiteren konkreten Fälle von Verurteilungen aufgrund außerehelichen Geschlechtsverkehrs gefunden werden.

Gesucht wurde mittels ecoi.net, Refworld und Google nach einer Kombination aus folgenden Suchbegriffen: Morocco/Maroc, conviction/condemnation, 490, out of wedlock/ unmarried/extra-marital sex, Office of the General Prosecutor, Raissouni

 

 
 

 

 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 19. Dezember 2019)

AI – Amnesty International: Hajar Raissouni Released; Outcome UA: 121/19 [MDE 29/1448/2019], 21. November 2019
https://www.ecoi.net/en/file/local/2020470/MDE2914482019ENGLISH.pdf

·      Die Zeit online: In Marokko verurteilte Journalistin aus der Haft entlassen, 17. Oktober 2019
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-10/marokko-begnadigung-journalistin-hajar-raissouni

·      HRW – Human Rights Watch: Morocco: Landmark Proposals on Individual Freedoms, 4. Dezember 2019
https://www.hrw.org/news/2019/12/04/morocco-landmark-proposals-individual-freedoms

·      ILO - International Labour Organization: Natlex, Morocco, Criminal and penal law, ohne Datum https://www.ilo.org/dyn/natlex/natlex4.listResults?p_lang=en&p_country=MAR&p_count=670&p_classification=01.04&p_classcount=15

·      Le Monde: Au Maroc, une affaire d’adultère relance le débat sur sa dépénalisation, 24. Juli 2019
https://www.lemonde.fr/afrique/article/2019/07/24/au-maroc-une-affaire-d-adultere-relance-le-debat-sur-sa-depenalisation_5493004_3212.html

·      Morocco World News: Moroccan Activists Publish Manifesto Against Penalizing Out of Wedlock Sex and Abortion, 23. September 2019
https://www.moroccoworldnews.com/2019/09/283215/moroccan-activists-manifesto-penalizing-out-wedlock-sex-abortion/

·      RSF – Reporters Sans Frontières: Moroccan journalist Hajar Raissouni free at last, 17. Oktober 2019
https://www.ecoi.net/de/dokument/2018851.html

·      Strafgesetzbuch des Königreichs Marokko [„Code Penal“] 1962, inklusive Novellierungen bis 15. September 2011 (konsolidierte Fassung zusammengestellt von Ministère de La Justice et des Libertés, verfügbar auf Refworld)
https://www.refworld.org/publisher,NATLEGBOD,,MAR,54294d164,0.html