Anfragebeantwortung zu Syrien: Gebiete unter kurdischer Selbstverwaltung: Zugriff der Zentralregierung auf Wehrdienstverweigerer und auf Wehrpflichtige; Einsatz eines Wehrpflichtigen nach seiner Rekrutierung; Beteiligung an Kriegsverbrechen[a-11061]

14. August 2019

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Gebiete unter kurdischer Selbstverwaltung: Zugriff der Zentralregierung auf Wehrdienstverweigerer und auf Wehrpflichtige

Die für auswärtige Angelegenheiten zuständige niederländische Regierungsbehörde Ministerie van Buitenlandse Zaken (BZ) veröffentlicht im Juli 2019 ihren Bericht zur aktuellen Sicherheitslage in Syrien. Dieser geht unter anderem auch auf das Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung ein. In manchen Gegenden Syriens hätte die Armee beziehungsweise hätten bewaffnete Gruppen kein Interesse daran, junge Männer zwangsweise zu rekrutieren. Die Gegenden, in denen die Wahrscheinlichkeit am größten sei, dass junge Männer rekrutiert würden, seien jene, die von der syrischen Regierung im Jahr 2018 wieder eingenommen worden seien, darunter die Provinz Dar’a und die Region um die Hauptstadt Damaskus:

„In sommige gebieden in Syrië hebben het leger of gewapende groepen geen belang om jongeren gedwongen in te lijven. De gebieden waar mannen de meeste kans hebben om ingelijfd te worden zijn de in 2018 door het Syrische bewind heroverde gebieden, zoals de provincie Dara’a en de gebieden rondom Damascus.“ (BZ, 4. Juli 2019, S. 69)

Die syrische Regierung übt in der unter kurdischer Selbstverwaltung stehenden Region die Kontrolle über zwei kleine Gebiete, sogenannte „Sicherheitsviertel“, in den Städten Qamishli und Al-Hasaka in der Provinz Al-Hasaka aus. Alle im weiteren Verlauf angeführten Quellen enthalten Informationen zu Rekrutierungen und Festnahmen durch syrisches Militär mit dem Ziel der Rekrutierung innerhalb oder in unmittelbarer Umgebung dieser beiden „Sicherheitsviertel“. Es konnten keine Quellen gefunden werden, die über Rekrutierungen der syrischen Armee oder der Militärpolizei außerhalb dieser zwei Bereiche in Gebieten unter Kontrolle der kurdischen Selbstverwaltung berichten.

 

Im Jänner 2017 berichtet die in Erbil im Irak ansässige Nachrichtenagentur Basnews, dass Truppen der syrischen Regierung in Qamishli und Umgebung (in Gebieten unter ihrer Kontrolle) sowie im Zentrum der Stadt Al-Hasaka Personen zum Zweck der Rekrutierung festgenommen hätten. In staatlichen Behörden in Al-Hasaka seien Razzien durchgeführt worden und eine Reihe kurdischer und arabischer Angestellter festgenommen worden. Auch an Checkpoints der Regierung im Sicherheitsviertel und dessen Umgebung in Al-Hasaka seien Bürger zum Zweck der Rekrutierung festgenommen worden. (Basnews, 3. Jänner 2017)

 

Al-Sharq al-Awsat, eine in saudischem Besitz befindliche Tageszeitung mit Sitz in London, berichtet im März 2018 über die Lage in den Städten Al-Hasaka und Qamishli, die sich unter geteilter Kontrolle der syrischen Regierung und der kurdischen Selbstverwaltung befinden würden. In beiden Städten gebe es jeweils ein sogenanntes „Sicherheitsviertel“, das von der syrischen Regierung kontrolliert werde. Der Artikel erwähnt, dass sich in dem Sicherheitsviertel in der Stadt Al-Hasaka ein Rekrutierungsbüro befinde. In Qamishli könnten sich Truppen der syrischen Regierung außerhalb des Sicherheitsviertels frei bewegen. (Al-Sharq al-Awsat, 9. März 2018)

 

Orient News, ein in Besitz eines syrischen Oppositionellen befindlicher Sender, der in Dubai ansässig ist, berichtet auf seiner Internetseite im Mai 2018, dass das syrische Verteidigungsministerium eine Anordnung erlassen habe, in den Städten Al-Hasaka und Qamishli im Nordosten Syriens Rekrutierungszentren zu eröffnen, deren Aufgabe es sei, junge Männer anzuziehen und Personen, die einem Rekrutierungsaufruf nicht gefolgt seien, beim Militärdienst und in der Reserve die Möglichkeit gebe, ihre „Verhältnisse“ in Ordnung zu bringen. Laut einem Journalisten in Al-Hasaka würden diese Zentren für die Zentralregierung arbeiten, stünden aber unter der Beaufsichtigung kurdischer Einheiten. 1.600 Personen seien laut dem Journalisten auf diese Weise in den beiden Städten wieder dem syrischen Wehrdienst zugeführt worden und es sei offensichtlich, dass dies durch Koordination zwischen der syrischen Regierung und den Räten der kurdischen Selbstverwaltung in den beiden Gebieten geschehe. Laut Angaben eines in Al-Hasaka wohnhaften jungen Mannes gebe es für die kurdischen jungen Männer in den Städten Qamishli und Al-Hasaka zwei Optionen: entweder der Wehrdienst für die syrische Regierung oder der Beitritt zu den Volksverteidigungseinheiten, dem militärischen Flügel der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD). Mittlerweile würden sie den syrischen Wehrdienst einer Rekrutierung in die Volksverteidigungseinheiten vorziehen. Der Artikel fügt hinzu, dass eine Rekrutierung in eine der beiden Armeen die betreffende Person von der Wehrpflicht für die andere Armee befreie. Die Regierung in Damaskus setze darauf, dass strenge Rekrutierungsmaßnahmen der PYD die jungen Männer wieder zum Wehrdienst in der syrischen Armee ermutigen würden. (Orient News, 26. Mai 2018)

 

Syria Television, ein aus der Türkei ausgestrahlter, der syrischen Revolution nahestehender Sender, berichtet im September 2018 über eine Welle von Festnahmen junger Männer durch Kräfte der syrischen Regierung. Laut Angaben kurdischer Nachrichtenportale seien eine Reihe kurdischer Männer in Qamishli festgenommen worden, um sie in den Wehrdienst oder die Reserve der syrischen Armee zu rekrutieren. Die Männer seien in Ausbildungslagern in Damaskus geschickt worden. Das Nachrichtenportal Basnews habe berichtet, dass mehr als fünfzig Männer an Checkpoints in der Stadt festgenommen worden seien. Die syrischen Kräfte hätten die Tatsache ausgenutzt, dass junge Männer sich mit ihren Familien in den Parkanlagen im Stadtteil Al-Bawaba im Norden der Stadt befunden hätten und hätten sie dort festgenommen. Ein führendes Mitglied der PYD habe laut Basnews vormals bestritten, dass die syrische Regierung kurdische junge Männer in der Stadt Qamishli und anderen Regionen unter Kontrolle der PYD festnehme und habe gesagt, dass solche Männer innerhalb der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) dienen würden. Es sei vonseiten der PYD auch gesagt worden, dass die syrische Regierung außerhalb der Sicherheitsviertel keinerlei Kontrolle ausübe. (Syria Television, 2. September 2018)

 

Al-Araby Al-Jadeed, ein 2014 in London gegründetes Medienunternehmen, berichtet in einem Artikel auf seiner Nachrichtenwebseite vom April 2019, dass laut syrischen regierungsnahen Medienquellen vor kurzem ein Zentrum für „Wiederversöhnung und Schlichtung der Verhältnisse” in Qamishli eröffnet worden sei. Das Zentrum befinde sich im von der syrischen Regierung kontrollierten Teil der Stadt und richte sich an Deserteure und Personen, die einem Rekrutierungsaufruf zum verpflichtenden Militärdienst oder zur Reserve nicht gefolgt seien. Ziel sei es, diese Personen in die syrische Armee zu rekrutieren. Die Eröffnung eines weiteren Zentrums dieser Art sei in der (unter Kontrolle der syrischen Regierung stehenden) Region Kawkab in der Provinz Al-Hasaka geplant. (Al-Araby Al-Jadeed, 15. April 2019)

Einsatz eines Wehrpflichtigen nach seiner Rekrutierung; Beteiligung an Kriegsverbrechen

Es konnten keine Informationen dazu gefunden werde, für welche Zwecke Rekruten in der syrischen Armee derzeit eingesetzt werden. Gesucht wurde mittels ecoi.net, Refworld, Factiva, und Google nach einer Kombination aus folgenden Suchbegriffen: Rekrut, syrische Armee, Einsatz, Aufgaben, Kampf, Idlib, recruit; cosncript, syrian, army, deployment, duties, assignments, مقاتل, الجيش السوري, ادلب

 

Die folgenden Quellen beschreiben den derzeitigen Zustand der syrischen Armee und erwähnen den Einsatz von ehemaligen Oppositionskämpfern als Rekruten bei der Offensive in Idlib und Hama:

 

Ein Artikel in der britischen Zeitung The Times vom Jänner 2019 berichtet über forcierte Rekrutierungskampagnen der syrischen Regierung in Vorbereitung auf die letzte große Offensive zur Einnahme des Rebellengebietes Idlib. Bewohner der Städte Damaskus, Aleppo und Deir El-Zour hätten berichtet, dass Sicherheitskräfte an Checkpoints die Personaldokumente von Passanten mit Fahndungslisten zur Rekrutierung abgleichen würden. Insbesondere in Damaskus und deren Vorstadt Ostghouta komme es zu Festnahmen mit dem Ziel der Rekrutierung. Die syrische Armee habe durch Verluste im Feld und Massendesertionen viele Kämpfer verloren. Viele Kämpfe an den Fronten würden seien in letzter Zeit daher von lokalen Milizen sowie schiitischen Milizen aus dem Irak, Iran und Libanon durchgeführt worden. Die syrische Regierung versuche nun, die Armee wieder in reguläre Divisionen zusammenzuführen:

„Hundreds of men are being rounded up in Syria and pressed into the military in a crackdown on any who have skipped conscription or duty in the reserves. No explanation has been given for the sudden action by the security forces, nor for a reported extension of the age of reservist duty from 40 to 43. The army has been reinforcing itself since last summer with a view to what could be the last and biggest confrontation of the eight-year war, an attempt to retake the rebel-held province of Idlib. Pictures of large groups of disconsolate men gathered at checkpoints have begun to appear on social media from Damascus. Reports from activists give wildly differing numbers, some saying that more than 300,000 names have been identified as due to complete either national service or reservist duty. Residents of Damascus, Aleppo and the eastern city of Deir Ezzor have all reported that security forces manning checkpoints have begun checking identity papers against lists of wanted men. […]

Among the areas seeing large numbers of arrests are suburbs of Damascus such as eastern Ghouta, which surrendered in April. Reports say that cars are being stopped at random. […]

The Syrian army has been badly denuded during the war, both by losses on the field and in the early stages by mass defections. Much of the frontline fighting in the latter stages has been conducted by semi-formal brigades carved out by generals from local militias, supplemented by Shia militias imported from Lebanon, Iraq and Iran and overseen by the Iranian al-Quds Brigade. It has been suggested that the regime is now attempting to reunite the army into its regular divisions as it seeks to re-establish order in the country.” (The Times, 29. Jänner 2019)

Das Middle East Institute, ein in Washington ansässiger Think-Tank, veröffentlicht im Juli 2019 einen Bericht zum Status der syrischen Armee und deren Einsatz, der beschreibt, dass die Armee sich seit Ende 2018 in einer Phase der Neuordnung und Ausbildung befinde. Größere Kampfeinsätze seien Ende 2018 nach und nach beendet worden und man habe seither versucht, sich mit Unterstützung des russischen Militärs neu zu ordnen. Der Fokus richte sich auf die Aufstockung der eigenen Reihen, viele ehemalige Rebellen und Zivilisten aus den zurückeroberten Rebellengebieten seien in die Armee rekrutiert worden. Trotz erheblicher Bemühungen, mithilfe russischer Militärberater die Armee wiederaufzubauen, sei deren Kampfstärke weiterhin eingeschränkt. Dies habe sich bei der von Russland unterstützten Offensive gegen eine Rebellenenklave im Norden der Provinz Hama gezeigt. Man setze zu sehr auf Elitetruppen, die sich fast ausschließlich aus Milizen zusammensetzen würden. Einheiten der syrischen Armee hätten die Nachhut gebildet, die für Artillerieunterstützung und die Einnahme gewonnenen Bodens zuständig gewesen sei, während man sich gelichzeitig auf massive willkürliche Luftbombardements gestützt habe. Dabei seien viele Stoßtruppen getötet worden, die Offensive sei ins Stocken geraten und Truppen der regulären syrischen Armee seien Angriffen durch Panzerabwehrraketen ausgesetzt gewesen:

„Late 2018: As major combat operations wound down in 2018, the SAA [Syrian Arab Army] began a period of serious restructuring with the help of the Russian military. The SAA faces a massive shortage of tanks and armored vehicles after losing more than 2,322 over the course of the war. […]

Emphasis is also being placed on replenishing the SAA’s depleted ranks. According to one source, an SAA division today contains around 11,000 men total, including reservists and civilian employees. The 18th Division has only 4,000 men (active duty, reservist, and civilian), while the 1st Division likely has more than 11,000. Attempts to integrate loyalist militias have already been discussed, but the regime has also tried to pressure reconciled rebels and civilians in formerly opposition-held locales to join. Since 2017, but with a renewed push in the second half of 2018, reconciled rebels have been heavily recruited into the 7th, 9th and 10th Divisions as well as the 5th Corps. […]

Russian military advisors have taken the lead in retraining and re-equipping several SAA divisions. […]

Despite considerable attempts at rebuilding the SAA, the combat capabilities of the regime’s armed forces remain limited. New weapons and new recruits cannot fix a system of ingrained ineptitude and corruption in the officer class – the key segment of any effective modern military. Russia appears to be aware of this and has been significantly reshuffling the SAA high command. […]

Lastly, the recent Russian-led offensive against the rebel enclave of north Hama and Idlib is a stark reminder of these shortcomings. Despite nearly a year of rebuilding and retraining between this offensive and the last major offensive — the capture of East Ghouta in spring 2018 — the Russian-backed Syrian forces in Hama have shown an inability to adapt. There has been an over-reliance on so-called 'elite‘ troops made up almost entirely of militias, supported in the rear by SAA units providing fire support and holding newly-captured ground all while relying on massive indiscriminate bombing campaigns. This strategy has led to a significant depletion in the currently deployed 'shock‘ units and led to a stalled campaign, leaving SAA position vulnerable to relentless opposition ATGM [anti-tank guided missile] strikes.“ (MEI, 18. Juli 2019)

Al-Monitor, eine auf Berichterstattung zum Nahen Osten spezialisierte Medienplattform, schreibt im Juni 2019, dass tausende ehemalige Kämpfer der oppositionellen Freien Syrischen Armee (FSA) von der syrischen Regierung in den Provinzen Damaskus, Daraa, Quneitra und Homs rekrutiert worden seien, nachdem sie Abkommen mit der Regierung geschlossen hätten. Die ehemaligen FSA-Kämpfer seien von der Regierung dann an der Front in den Provinzen Idlib und Hama bei der Offensive gegen die Opposition eingesetzt worden. Manche von ihnen seien bei den Kämpfen getötet worden:

„In the battles against the armed opposition in the northern Hama countryside, south of Idlib province, the Syrian regime is recruiting fighters of opposition factions who have reconciled with Damascus in recent years, some from the southern provinces of Daraa, Damascus and Quneitra, and others from Homs province in central Syria. The Syrian government forces have recruited thousands of fighters of the Free Syrian Army (FSA) factions who have reached settlements with the regime in the areas where the opposition was defeated in 2017-18, namely in eastern Ghouta in Rif Dimashq and in the provinces of Daraa, Quneitra and Homs. Just a few days after Syrian government forces stepped up its offensive against the opposition in Idlib on May 6, many former FSA fighters fighting alongside it were killed. On May 9, regime forces delivered a number of bodies to their relatives in Quneitra. On May 11-13, some of these former FSA fighters from Rif Dimashq were killed in battles, while four others from Douma in eastern Ghouta were killed in battles in the Hama countryside on May 23[…]

Ayman Abu Noqta, an activist from Daraa, told Al-Monitor, 'The Syrian regime has transferred a large number of former FSA fighters from the provinces of Daraa and Quneitra to the battlefields in the northern countryside of Hama and southern Idlib province since early 2019. The regime is involving them in the battles against the opposition to solve the shortage in the ranks of its forces.' Col. Mostafa Bakkour, commander in the FSA-affiliated Jaysh al-Izza, told Al-Monitor, 'A good number of former FSA fighters are partaking in the battles in Hama’s northern countryside and many have been killed since the fighting first began. Yet there are no accurate statistics on the exact number of former FSA fighters who have joined the regime’s ranks. However, we are certain that a large number of those fighting on the battlefronts are former FSA fighters from different areas. Many came from Daraa, Rif Dimashq, Homs and Quneitra, for instance.‘” (Al-Monitor, 13. Juni 2019)

 

 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 14. August 2019)