Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von alleinstehenden Frauen, vor allem mit westlicher Gesinnung nach Rückkehr aus dem westlichen Ausland und Asylantragstellung [a-10899]

25. Februar 2019

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

 

Informationen zu dieser Fragestellung entnehmen Sie bitte auch folgenden Anfragebeantwortungen der BFA-Staatendokumentation vom Dezember 2018 sowie der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) vom Februar 2018:

 

Detaillierte Informationen zur Lage von Frauen ohne Netzwerke im Irak finden Sie in folgendem Bericht der finnischen Einwanderungsbehörde (Finnish Immigration Service, FIS) vom Mai 2018:

 

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO) eine Agentur der Europäischen Union, die die praktische Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Asylbereich fördern soll und die Mitgliedsstaaten unter anderem durch Recherche von Herkunftsländerinformation und entsprechende Publikationen unterstützt, bezieht sich in einem Bericht vom Februar 2019 auf Angaben der Minority Rights Group International (MRG) vom Juli 2017, denen zufolge von Frauen in der irakischen Gesellschaft erwartet werde, dass sie unter dem Schutz von Männern stünden. Diejenigen, die nicht unter dem Schutz ihrer Familien stünden, seien in einer Situation extremer Verwundbarkeit („vulnerability“) und möglicher Gefahr. Es gebe auch keine funktionierenden Frauenhäuser („effective shelters“) im Irak. Dr. Geraldine Chatelard, Historikerin und Anthropologin, habe in einer E-Mail-Korrespondenz mit EASO im November 2018 angegeben, dass Frauen und unbegleitete Kinder ohne familiäre Netzwerke mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert seien, insbesondere alleinstehende Frauen, auf die herabgesehen werde, weil sie keinen männlichen Schutz hätten, und die dem Risiko körperlicher Misshandlungen ausgesetzt seien. Wenn diese Frauen Kinder hätten, die von ihnen abhängig seien, seien diese auch dem Risiko von Misshandlungen ausgesetzt:

„According to Minority Rights Group International, in Iraqi society, women are expected to be under the deferential protection of men. Those living outside of the protection of their families are in a situation of ‘extreme vulnerability’ and potential danger; there are no effective shelters for women in Iraq, and women who leave their homes from abuse are vulnerable and may end up taking shelter in prisons or in prostitution. Dr Chatelard also gave the view that ‘women and unaccompanied minors with no family support networks face additional challenges anywhere, especially single women who are looked down upon for not having a male protector and are at risk of physical abuse. If they have dependent children, those are also at risk of abuse.’ This also applies for unaccompanied minors.“ (EASO, Februar 2019 (a), S. 106)

In einem gemeinsamen Bericht der dänischen Einwanderungsbehörde (Danish Immigration Service, DIS) und des norwegischen Herkunftsländerinformationszentrums Landinfo vom November 2018 zu einer Fact-Finding-Mission in Erbil und Sulaymaniyya vom 22. bis 30. April 2018 wird erwähnt, die kurdischen Behörden hätten angegeben, dass zurückgewiesene Asylwerber, die in den Irak zurückkehren würden, Probleme bei der Rückkehr hätten, wenn sie über kein Netzwerk verfügen würden, dass sie unterstütze. Insbesondere alleinstehende Frauen seien gefährdet („exposed“). Es gebe keine Unterbringungsmöglichkeiten („shelters“), weil diese unter zu geringer Finanzierung leiden würden:

„Kurdish authorities stated that rejected asylum applicants returning to Iraq would have difficulties in returning, if they do not have a network to support them. Especially single women would be exposed. There is no space in shelters, because they also suffer from lack of funding.” (DIS/Landinfo, 5. November 2018, S. 39)

Freedom House, eine in den USA ansässige NGO, die zu den Themen Demokratie, politische Freiheit und Menschenrechte forscht und sich für diese einsetzt, schreibt in dem im Februar 2019 veröffentlichten Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018, dass die Bewegungsfreiheit von Frauen durch rechtliche Einschränkungen begrenzt sei. Frauen bräuchten das Einverständnis eines männlichen Vormunds, um einen Pass und Personenstandsdokumente zu erhalten, was für den Zugang zu Arbeit, Bildung und eine Reihe sozialer Dienste erforderlich sei. Sowohl Frauen als auch Männer würden unter Druck gesetzt, konservativen Standards bezüglich der äußeren Erscheinung zu entsprechen. Eine Reihe von bekannten Frauen, die mit der Schönheits- und Modebranche in Zusammenhang gebracht worden seien, seien 2018 ermordet worden, darunter Tara Fares, ein Social-Media-Star, die im September in Bagdad erschossen worden sei. Am Jahresende sei nicht bekannt gewesen, wer die Täter in diesen Fällen gewesen seien, aber die Regierung habe extremistische Gruppen für die Morde verantwortlich gemacht:

„The movement of women is limited by legal restrictions. Women require the consent of a male guardian to obtain a passport and the Civil Status Identification Document, which is needed to access employment, education, and a number of social services. […]

G3. Do individuals enjoy personal social freedoms, including choice of marriage partner and size of family, protection from domestic violence, and control over appearance? 1 / 4 […]

Both men and women face pressure to conform to conservative standards on personal appearance. A number of high-profile women associated with the beauty and fashion industries were murdered in 2018, including Tara Fares, a social media star who was shot dead in Baghdad in September. The assailants remained unknown at year’s end, but the government blamed extremist groups for the murders.“ (Freedom House, 4. Februar 2019)

Zwei Artikel und einen Videobeitrag zu der erwähnten Ermordung von Tara Fares sowie weiterer berühmter Frauen finden Sie unter folgenden Links:


 

In einem weiteren Bericht vom EASO vom Februar 2019 wird auf eine Studie der International Organization for Migration (IOM) vom Februar 2018 Bezug genommen, die die Lage von 675 irakischen StaatsbürgerInnen untersucht habe, die aus Europa zurückgekehrt seien. Die RückkehrerInnen seien nach den größten Herausforderungen befragt worden, mit denen sie bei ihrer Rückkehr konfrontiert gewesen seien. An erster Stelle sei das Finden eines Jobs oder einer einkommensgenerierenden Aktivität genannt worden. Auch genannt worden seien auf den folgenden Plätzen leistbarer Wohnraum, psychische Probleme und negative Reaktionen von Seiten der Familie oder Freunden.

Das australische Außen- und Handelsministerium (Department of Foreign Affairs and Trade, DFAT) habe im Oktober 2018 geschrieben, dass man die interne Relokation in die Region Kurdistan für jeden ohne Sponsor oder existierende Netzwerke in der Region für schwierig halte. Die Einreiseerlaubnis für die Region Kurdistan liege im Ermessen der kurdischen Regionalregierung, die die Einschränkungen verstärkt habe. Unter anderem werde von Einzelpersonen gefordert, dass sie einen Sponsor haben müssten, allerdings sei die Umsetzung häufig in der Praxis nicht einheitlich. DIS und Landinfo hätten in ihrem Bericht vom November 2018 angeführt, dass laut den Angaben von Quellen unter anderem Haushalte, die von alleinstehenden Frauen geführt würden, die das Fehlen ihrer Männer nicht erklären könnten, sowie alleinstehende Frauen und Männer ohne Familien einen Sponsor für die Region Kurdistan bräuchten. Eine internationale NGO, die von DIS und Landinfo interviewt worden sei, habe angegeben, dass alleinstehende Frauen, die das Fehlen ihrer Männer nicht mit Dokumenten, etwa der Todes- oder Scheidungsurkunde, rechtfertigen könnten, einen Sponsor bräuchten:

„A February 2018 study by IOM (International Organization for Migration) tracked 675 Iraqi nationals who returned from Europe, finding that the majority of them (64 %) went back with the support of IOM, 26 % returned by their own means, and 10 % were supported by an NGO. IOM provides Assisted Voluntary Return and Reintegration (AVRR) that includes travel organisation and ticket booking, support in issuance of travel documents at consulates and in the country of origin, airport assistance upon departure and return, and in-kind reintegration support and cash grants [based on national programs]. […]

The same study asked respondents to identify main challenges that they faced upon their return to Iraq. The study concluded that the ‘overwhelming primary challenge faced by returnees was finding a job or income generating activity (57 %)’, a number of other secondary challenges were mentioned: finding affordable housing (17.5 %), mental/psychological issues (12 %), and ‘facing negative reactions’ from family and friends in Iraq (9 %).“ (EASO, Februar 2019 (b), S. 13-15)

„DFAT [Department of Foreign Affairs and Trade] wrote in October 2018 that it assessed internal relocation to KRI [Kurdistan Region of Iraq] as ‘difficult for anyone without a sponsor or existing networks within the region’.” (EASO, Februar 2019 (b), S. 23)

„According to Australia’s DFAT, writing in October 2018, admission into the KRI is at the discretion of the KRG [Kurdistan Regional Government], ‘which has increased restrictions, including requiring individuals to have a sponsor’ though implementation is frequently ‘inconsistent in practice’.

Sources told DIS/Landinfo that examples of people who require a sponsor for KRI include:

• single female-headed households who cannot explain the absence of their husbands;

• single men and women without families; and

• young Arab men; who had been denied access or had difficulty gaining access to KRI depending on their relations .” (EASO, Februar 2019 (b), S. 34-35)

„According to an international NGO operating in KRI who was interviewed by DIS/Landinfo in 2018, for residency in Erbil, Arabs, Turkmen, and other minorities who are IDPs require a residence permit. Kurds and Christians do not require a sponsor or a residence permit, nor do they need sponsorship. The source stated that there is no sponsorship requirement for Erbil residency. However, the same source also said that families who wish to apply for a residency permit for a renewable 6-12 month residence permit must provide a letter from the mukhtar and submit applications to the local Asayish. Furthermore, the same source stated that single women who cannot justify their husband’s absence by documentation (death/divorce certificate) and single men and women without families may be required to have a sponsor. It is also decided ‘on a case-by-case basis’.” (EASO, Februar 2019 (b), S. 39-40)

Der Bericht führt weiters unter Bezugnahme auf verschiedene Quellen aus den Jahren 2017 und 2018 aus, dass die Bewegungsfreiheit von Frauen im Allgemeinen aus kulturellen Gründen oder mit Unterstützung religiöser Normen weder vom Gesetz noch dem Gewohnheitsrecht respektiert werde. In der Region Kurdistan könnten Frauen, die keine Männer hätten, etwa Witwen oder von Frauen geführte Haushalte, Einkommen, sozialen Schutz und Unterstützung (der erweiterten Familie und von Freunden) verlieren. IOM habe in einer Studie von 2017 zu Rückkehrmustern herausgefunden, dass fehlendes Geld unter den größten Rückkehrhindernissen gewesen seien, die von Frauen geführte Haushalte und Kleinhaushalte („minor-female-headed household“) genannt hätten. Frauen könnten ohne Zustimmung eines männlichen Verwandten keine Personenstandsdokumente erhalten. Frauen, deren Männer tot oder verschwunden seien und die für sich keine Ausweisdokumente besorgen könnten, seien möglicherweise nicht in der Lage, humanitäre Hilfe oder Leistungen der Regierung zu empfangen, da die Ausweisdokumente, die für den Erhalt der Hilfsleistungen erforderlich seien, auf den Namen des männlichen Haushaltsvorstands ausgestellt würden oder weil die Frauen keine Dokumente vorlegen könnten, die den Tod ihres männlichen Vormunds bestätigen würden. Ein Vertreter von MRG habe erklärt, dass alleinstehende Frauen, Witwen oder Frauen, die ohne männliche Begleitung reisen müssten, beim Umzug („relocation“) und der Wiederansiedlung wegen der herrschenden gesellschaftlichen Normen, die Männer als Familienoberhäupter ansehen würden, vermutlich mit Problemen konfrontiert würden. Zudem würde Frauen, die alleine reisen würden, Misstrauen entgegengebracht. MRG habe auf Frage von EASO im Zuge der Berichtserstellung geantwortet, dass Witwen und geschiedenen Frauen insbesondere dem Risiko ausgesetzt seien („prone“), dass man auf sie herabsehe. DFAT habe in ähnlicher Weise angegeben, dass alleinstehende Personen, insbesondere Frauen und Kinder, die über keine existierenden Netzwerke in der Region verfügen würden, in die sie ziehen würden, Probleme hätten, in die Region Kurdistan zu ziehen und mit ähnlicher Diskriminierung von offizieller und gesellschaftlicher Seite konfrontiert seien wie in anderen Teilen des Iraks. Laut der UNO-Unterstützungsmission für den Irak (United Nations Assistance Mission for Iraq, UNAMI) erlaube es die irakische Regierung zivilgesellschaftlichen Gruppen nicht, Frauenhäuser zu betreiben. Die wenigen Organisationen, die es täten, würden ins Visier genommen und stigmatisiert, seien Ziel von Polizeirazzien oder würden von verschiedenen Akteuren eingeschüchtert und bedroht. UNAMI habe berichtet, dass es ein paar Frauenhäuser in Kirkuk und Basra gebe. Zudem habe UNAMI darüber berichtet, dass eine bewaffnete Gruppe im Oktober 2017 eine Razzia in einem Frauenhaus in Bagdad durchgeführt und die Herausgabe einer Frau gefordert habe, die vor häuslicher Gewalt geflohen sei. In der Region Kurdistan sei es Organisationen erlaubt, Frauenhäuser zu führen, allerdings hätten die Behörden Berichten zufolge die Genehmigungen zu ihrer Einrichtung verweigert wegen der Anschuldigung, sie würden die Prostitution fördern:

„4.3 Women

Freedom of movement for women is generally not respected by law or custom, on cultural grounds and at times, reinforced by religious norms. According to a workshop on displacement in the KRI, for women without male family members, such as widows or female-headed households, it ‘may lead to deprivation of income, social protection and support (from extended family and neighbours)’. IOM found that the lack of money was among the main obstacles to return cited by female-headed and minor-female-headed households in its 2017 study on return patterns.

Women cannot obtain civil status documentation without the consent of a male relative. Women whose husbands are dead or missing and who cannot obtain identity documents for themselves may be unable to receive humanitarian aid or government services because ID documents necessary to receive aid are issued under the name of the male head of household or because they cannot provide documents confirming the deaths of their male guardians. UNICEF stated that although there is a legal framework in place to allow children born of sexual violence in Iraq’s conflict to obtain identity documents, ‘in practice obtaining such documents is exceptionally difficult and requires women to publicly expose what they have survived – experiences that their families, culture, tribe and religion consider to be deeply shameful’. MRG stated that Female IDPs have also reportedly found it especially difficult to reacquire documentation due to the need to travel to offices in areas that are ‘impossible to access’. The MRG’s civilian rights officer explained that single women and widows, or women who have to travel alone without a male companion, are likely to face difficulty relocating and re-establishing themselves due to the dominant social norms that view men as the heads of the family and that a woman travelling alone would be seen with suspicion. MRG commented in correspondence to EASO for this report that widows or divorced women would be particularly prone to being looked down upon or harassed. DFAT similarly noted that single people, but women and children in particular, without existing networks in the region of relocation, would have trouble relocating to the KRI and face similar official and societal discrimination as in other parts of Iraq.

The federal government does not permit civil society groups to run shelters and those few organisations that do so anyway are ‘targeted and stigmatized’, raided by police, or intimidated and threatened by a range of actors according to UNAMI [United Nations Assistance Mission for Iraq]. UNAMI reported that there are ‘some’ shelters in Kirkuk and one in Basrah. Also, they reported on a raid by an armed group in October 2017 on a Baghdad shelter; they demanded the release of a woman fleeing domestic violence. In the Kurdistan region, organisations are permitted to run shelters, though authorities have reportedly denied licenses to establish them under accusations of fostering prostitution.” (EASO, Februar 2019 (b), S. 49-50)

In einem weiteren Bericht vom November 2018 von DIS und Landinfo, der sich um die Region Kurdistan dreht, wird erläutert, dass die Anzahl der Scheidungen in Kurdistan zugenommen habe. Man gehe jedoch immer noch davon aus, dass es hart und stigmatisierend sei, als geschiedene Frau in der kurdischen Gesellschaft zu leben. Eine gebildete Frau mit eigenem Einkommen, die in der Stadt wohne, könne alleine leben, solange sie keinen mit Ehre in Zusammenhang stehenden Konflikt mit ihrer Familie habe. Allerdings hätten die sich verschlechternde finanzielle Situation und die gesellschaftlichen Einschränkungen, mit denen Frauen konfrontiert seien, die Möglichkeiten für Frauen, alleine zu leben, reduziert. Erbil und Dohuk seien beide als konservative Regionen bekannt, in denen Frauen streng kontrolliert würden. Eine geschiedene Frau außerhalb der Städte wäre nicht in der Lage, alleine zu leben. Allerdings sei dies bei Witwen akzeptiert:

„3.3 Perception of single women

The number of divorces in KRI [Kurdistan Region of Iraq] has increased. Yet, to be a divorced woman in the Kurdish society is still considered to be tough and stigmatising. A well-educated woman with her own income and who lives in the city is able to live on her own as long as she does not have an honour conflict with her family. However, the deteriorating financial situation along with the societal restrictions that women are facing in Iraq, have reduced a women’s ability to live on their own. Erbil and Dohuk are both known as conservative regions with strict control of women.

A divorced woman who lives outside the cities will not be able to live on her own. This is, on the other hand, accepted for widows.“ (DIS, 9. November 2018, S. 13)

 

 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 25. Februar 2019)