Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von Mitgliedern schiitischer Milizen, die sich als Deserteure von ihren Einheiten entfernt haben bzw. nicht wieder bei der Miliz gemeldet haben (Sanktionen, Behandlung durch Milizen) [a-10558]

25. Mai 2018

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Joel Wing, ein in den USA ansässiger Irakexperte und Betreiber des Blogs „Musings on Iraq“, schreibt in einer E-Mail-Auskunft vom Mai 2018, dass er von keinen Konsequenzen gehört habe, die aus dem Fernbleiben beziehungsweise dem Desertieren von einer Einheit der Volksmobilmachungskräfte (Popular Mobilisation Forces, PMF, arabisch: al-Haschd asch-Schaabi; für die irakische Regierung kämpfende Milizen, Anm. ACCORD) resultieren würden. Die Volksmobilmachungskräfte hätten über eine sehr große Anzahl von Rekruten verfügt. Dies bedeute wahrscheinlich auch, dass eine beträchtliche Anzahl dieser Rekruten die Milizen auch wieder verlassen hätten:

„I haven't heard of any real consequences from leaving a Hashd unit. There was a huge number of recruits which probably means there was a fair number of people eventually leaving as well.“ (Wing, 8. Mai 2018)

Auf die Frage, ob das Dekret des Premierministers Abadi zur Integrierung der Volksmobilmachungskräfte in die irakischen Sicherheitskräfte (Iraqi Security Forces, ISF) umgesetzt werde und dies bedeute, dass das Militärgesetz zur Desertion auch für diese Einheiten gelte, antwortete Joel Wing, dass die Volksmobilmachungskräfte (Haschd) eigentlich der Militärgesetzgebung unterliegen würden, da sie nun als Teil der offiziellen Sicherheitskräfte gelten würden. Jedoch handle es sich hierbei mehr um Bestimmungen auf Papier als um reale Zustände. Die einzelnen Einheiten der Volksmobilmachungskräfte würden weiterhin eher ihren individuellen Anführern als Anordnungen der Regierung folgen:

„The Hashd are supposed to follow military rules now that it has been declared part of the security forces but that is really on paper more than in practice. The individual Hashd forces still follow their leaders more than the govt or any regulations.“ (Wing, 8. Mai 2018)

Yezid Sayigh, ein Nahostexperte am in Beirut ansässigen Carnegie Endowment Middle East Center, einem Ableger der US-amerikanischen Denkfabrik Carnegie Endowment for International Peace, äußert sich in einer E-Mail-Auskunft vom Mai 2018 über die Entwicklung der Volksmobilmachungskräfte (Popular Mobilisation Units, PMU) von Milizen zu staatlichen Sicherheitstruppen. Laut Sayigh würde das von Premierminister Abadi erlassene Dekret ein im November 2016 verabschiedetes Gesetz bestätigen, das die PMU zu einer staatlichen Einrichtung erklären und sie dem Verteidigungsministerium angliedern würden. Das Dekret lege auch fest, dass die PMU denselben rechtlichen Rahmenbedingungen hinsichtlich Lohn, Eintritt in Militärakademien etc. unterliegen wie die regulären Streitkräfte. Dieser Aspekt sei im Gesetz von 2016 noch vage gehalten worden. Streng genommen müsste dies bedeuten, dass das Militärgesetz auf die PMU anzuwenden sei. Sayigh selbst habe das Dekret aber nicht in seiner gesamten Länge gesehen, daher könne es sein, das der Aspekt des Militärstrafgesetztes im Dekret ausgeschlossen oder nicht speziell erwähnt worden sei. Jedoch selbst wenn das Militärstrafgesetz auch für die PMU gelte, so werde dessen Umsetzung möglicherweise durch den anhaltenden politischen Konflikt bezüglich der Existenz und der Autonomie der PMU verhindert. Die PMU würden sich möglicherweise gegen eine Umsetzung von standardmäßigen Vorschriften durch Gremien außerhalb ihrer eigenen Reihen wehren. Andererseits könnten sie für sich möglicherweise die alleinige Autorität beanspruchen, das Militärstrafgesetz in ihren eigenen Reihen anzuwenden. Dabei würden dann wahrscheinlich Strafmaßnahmen ergriffen, die nicht im Militärstrafgesetz stehen würden beziehungsweise geltende Strafmaßnahmen nur in abgemilderter Form umgesetzt. Interne Spaltungen innerhalb der PMU sowie die wichtige Rolle persönlicher Netzwerke könnten dazu führen, dass vorgesehene Strafmaßnahmen bis hin zur Exekution durch interne Machenschaften abgemildert werden könnten:

„ […] the decree a) reaffirms the law issued in November 2016 making the PMU [Popular Mobilization Units] a formal state agency and attaching it to the MoD [Ministry of Defence], which in reality reconfirms it as an autonomous entity, and b) confirms that the PMU will be subject to the same framework (pay, entry to military academies, etc) as the regular armed forces (not security, which refers to internal/police). The latter item was missing and left vague in the 2016 law.

Strictly speaking, this should mean that the same military penal code will apply to the PMU (unless it is explicitly excluded from Abadi’s decree, which I haven’t seen in full, or unless his decree covers only those issues that are specifically listed). But even if the code applies, its implementation may be impeded by the continuing political struggle over the existence and autonomy of the PMU, which may seek to block attempts to enforce standard provisions by anyone outside its ranks. Conversely, the PMU may claim sole authority to apply the code (or other issues) to its own members: this could mean it applies punishments that are not mentioned/allowed in the military penal code, or that it is lax in applying statutory punishments - the factionalized nature of the PMU and the role of personal networks may mean that anything as severe as execution will be mitigated by internal politics.“ (Sayigh, 8. Mai 2018)

Mark Lattimer, Leiter des Ceasefire Centre for Civilian Rights, einem Projekt zur Beobachtung und Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen in Krisenregionen, schreibt in einer E‑Mail-Auskunft vom 15. Mai 2018, dass die Volksmobilmachungskräfte (Haschd), obwohl sie laut Dekret Teil der irakischen Sicherheitskräfte seien, in der Praxis nicht der Militärjustiz unterworfen seien. Jegliche Strafen, die Personen treffen könnten, die eine Einheit der Volksmobilmachungskräfte verlassen hätten oder von einer Einheit desertiert seien, würden daher im Ermessen der betreffenden Miliz liegen oder seien durch örtliche Justiz beziehungsweise Stammesjustiz geregelt. Lattimer selbst habe Personen getroffen, die sich Milizen angeschlossen und diese anscheinend ohne negative Konsequenzen auch wieder verlassen hätten. Bei diesen Milizen handle es sich aber einerseits um solche, vor denen man sich weniger in Acht nehmen müsste („not the militias that you would be most worried about“), andererseits sei es sehr schwierig, vor dem Hintergrund einer so fragmentierten Landschaft unterschiedlicher Milizen aus Einzelerfahrungen Schlüsse zu ziehen. Es bestehe kein Zweifel, dass innerhalb mancher Familien oder Stämme ein großer Druck auf junge Männer ausgeübt werde, Milizen beizutreten und sich auch weiterhin in diesen zu engagieren:

„The Hash’d, although part of the ISF (Iraqi Security Forces) by decree, have not in practice fallen within the ambit of the military justice system. So any penalties faced by those who leave or desert from the Hash’d depend on the militia in question, and may also fall to local tribal justice. I have certainly met individuals who have joined militias and then left, apparently without negative consequences but a) they are probably not the militias that you would be most worried about and b) it is difficult to extrapolate from individual experiences in such a fractured landscape. There is no doubt that in certain families/tribes the pressure on young men to join (and stay) is great.” (Lattimer, 15. Mai 2018)

Die internationale Nachrichtenagentur Reuters schreibt im März 2018, dass der irakische Premierminister Haidar al-Abadi ein Dekret erlassen habe, das die Integrierung der schiitischen paramilitärischen Einheiten in die Sicherheitskräfte des Landes vorsehe. Die Einheiten, eine Mischung von Milizgruppen, die kollektiv als Volksmobilmachungskräfte (Popular Mobilisation Forces, PMF) bekannt seien und Großteils vom Iran ausgebildet und unterstützt würden, würden demnach viele der Rechte erhalten, die Mitglieder der Armee hätten. Mitglieder der PMF würden den gleichen Sold erhalten wie Armeemitglieder, die unter Kontrolle des Verteidigungsministeriums stehen würden. Die Gesetze zum Militärdienst würden dann auch auf sie zutreffen:

„Iraqi Prime Minister Haider al-Abadi issued a decree on Thursday formalising the inclusion of Shi’ite paramilitary groups in the country’s security forces. According to the decree, members of the Shi’ite militias, an assortment of militia groups known collectively as the Popular Mobilisation Forces (PMF), which are mostly backed and trained by Iran, will be granted many of the same rights as members the military.

Paramilitary members will be given equivalent salaries to those members of the military under the Ministry of Defence’s control, the decree said. They will also be subject to the laws of military service and will gain access to military institutes and colleges.” (Reuters, 8. März 2018)

Die US-amerikanische Denkfabrik Middle East Institute (MEI) erwähnt im März 2018, dass ein Sprecher der Asa’ib Ahl al-Haq, einer Milizeinheit innerhalb der Popular Mobilisation Forces (PMF) mit engen Beziehungen zu den iranischen Revolutionsgarden, das Dekret des Premierministers Abadi begrüßt habe, das den PMF-Mitgliedern die gleichen Löhne und Leistungen gewähre wie regulären Mitgliedern der Armee. Gleichzeitig habe er betont, dass die PMF sich nicht mit den staatlichen Sicherheitsinstitutionen vereinigen würden. Die PMF sollten seiner Meinung nach nicht mit dem Innen- oder dem Verteidigungsministerium zusammengeschlossen werden, da dies eine Schwächung oder sogar Abschaffung der PMF bedeuten würde:

„The spokesman of Asa’ib Ahl al-Haq, a militia unit within Iraq’s Popular Mobilization Force (PMF) with close ties with Iran’s Revolutionary Guards, welcomed Iraqi Prime Minister Haider al-Abadi’s decree giving PMF members equal salaries and benefits as those of regular military personnel, but emphasized that the PMF paramilitary forces will not be merged into any of the country’s security institutions. […]

‘We do not agree to Hashd being merged into the ministries of interior and defense because this would mean weakening and abolishing it. And this is not appropriate.‘” (MEI, 12. März 2018)

Informationen zu Konsequenzen bei einer Desertion aus der irakischen Armee entnehmen Sie bitte folgender Anfragebeantwortung vom Juni 2016:

 

·      ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Folgen einer Desertion von der irakischen Armee [a-9672], 3. Juni 2016
https://www.ecoi.net/de/dokument/1013360.html

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 25. Mai 2018)

·      ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zum Irak: Folgen einer Desertion von der irakischen Armee [a-9672], 3. Juni 2016
https://www.ecoi.net/de/dokument/1013360.html

·      Lattimer, Mark: E-Mail-Auskunft, 15. Mai 2018

·      MEI – Middle East Institute: Iran-backed group says Hashd al-Shaabi will not merge into Iraq’s security institutions, 12. März 2018
http://www.mei.edu/content/io/iran-backed-group-says-hashd-al-shaabi-will-not-merge-iraq-s-security-institutions

·      Reuters: Iraq's Shi'ite militias formally inducted into security forces, 8. März 2018
https://af.reuters.com/article/worldNews/idAFKCN1GK351

·      Sayigh, Yezid: E-Mail-Auskunft, 8. Mai 2018

·      Wing, Joel: E-Mail-Auskunft, 8. Mai 2018