Anfragebeantwortung zu Albanien: Blutfehden und staatlicher Schutz [a-10922]

Diese Anfragebeantwortung wurde für die Veröffentlichung auf ecoi.net abgeändert.

20. März 2019

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

 

CEDOCA, die Herkunftsländerinformationsstelle des belgischen Generalkommissariats für Flüchtlinge und Staatenlose (Commissariat Général aux Réfugiés et aux Apatrides, CGRA) veröffentlicht im Juni 2017 einen Bericht zu einer im März 2017 durchgeführten Fact-Finding-Mission nach Albanien. Basierend auf Treffen mit staatlichen und nichtstaatlichen Ansprechpartnern befasst sich CEDOCA im Bericht mit Blutfehden im gegenwärtigen Albanien, mit deren Prävalenz und der Reaktion des Staates. Zu den Charakteristika heutiger Blutfehden, erklärt Mentor Kikia, ein Journalist und zivilgesellschaftlicher Aktivist, dass die Verhaltensregeln nicht mehr vom albanischen Gewohnheitsrecht (Kanun) bestimmt würden. Wenn alle das albanische Gewohnheitsrecht respektiert hätten, hätte es in den 90er-Jahren weniger Morde gegeben, so Kikia. Andererseits habe er im Gespräch mit CEDOCA eingeräumt, dass Kanun-Elemente wie die Selbstisolation oder das Element der Verhandlung manchmal auch noch in gegenwärtig stattfindenden Blutfehden zu beobachten seien.

Alfred Koçobashi, ein Mitglied der People’s Advocate Institution, habe CEDOCA mitgeteilt, dass eine Blutfehde immer noch dann auftrete, wenn ein unschuldiger Dritter den Preis für den Schaden bezahlen müsse, den ein Familienmitglied angerichtet habe. Koçobashi habe allerdings ergänzt, dass sich bei den Fällen seit den 90er-Jahren nicht mehr um Ehre drehe: 80 Prozent der Fälle seien strafrechtlich relevant und nicht mit dem Gewohnheitsrecht oder dem mittelalterlichen Zivilrecht verbunden. Es gehe um Mafia-ähnliche Morde. Es seien Mordfälle, die aus anderen Gründen, nicht aufgrund einer Blutfehde, begangen würden, genau wie sie anderenorts auch vorkommen würden. Es seien normale Morde oder Rachemorde.

Elsa Ballauri von der Albanian Human Rights Group (AHRG) habe ebenfalls auf die Abwandlung der Blutfehde verwiesen. Die Blutfehde habe sich im Hinblick auf die so genannten alten Codes verändert. Heutzutage würden sogar Frauen und Kinder aufgrund einer Blutfehde getötet, was nicht den Vorgaben des albanischen Gewohnheitsrechts (Kanun) entspreche. So etwas sei keine echte Blutfehde, wie sie im Kanun beschrieben werde. Blutfehde würde heutzutage eher als eine Rechtfertigung verwendet, wenn jemand ein Verbrechen begehe und dann angebe, es aufgrund einer Blutfehde getan zu haben, so Ballauri. Für Ballauri sei keiner der Fälle, die nach den 90er-Jahren verübt worden seien, ein echter Blutfehdefall gewesen. Auch Rasim Gjoka von der Foundation for Conflict Resolution and Reconciliation of Disputes (AFCR) habe erklärt, dass der Begriff in den meisten Fällen verwendet werde, um schwere Verbrechen zu rechtfertigen. Dies seien keine Blutfehden, sondern reine Kriminalität.

Der Generaldirektor der albanischen Staatspolizei habe ebenfalls angeführt, dass Rachefälle, die meist die Folge von Kriminalität und individuellen Konflikten oder Streitigkeiten seien, jeden treffen und überall passieren könnten. Sehr oft würden derartige Fälle fälschlicherweise als Blutfehde bezeichnet:

„Mentor Kikia explained that with regard to contemporary blood feud in Albania, the Kanun [das albanische Gewohnheitsrecht, Anm. ACCORD] ‘no longer makes the lines of conduct: If they would have respected the Kanun to the letter, there would have been less killings in the 1990s.’ On the other hand, he acknowledged that Kanun-elements like ‘selfisolation’ […] or the element of ’negotiation’ […] can sometimes still be observed in contemporary blood feuds.

Alfred Koçobashi stated that blood feud still occurs ‘when someone innocent, a third party has to pay the price for the damage a family member has done, but he added that since the 1990s it is not about honour anymore. 80% is criminal and not related to customary law or medieval common law. It’s about mafia-style killings. It’s murder cases for other reasons than blood feud, just like they happen elsewhere. It’s normal killings or vendetta killings.’

Elsa Ballauri from the Albanian Human Rights Group (AHRG) also referred to the transformation of blood feud: ‘blood feud has changed in the perspective of the so-called ancient codes.’ She pointed out that nowadays, people are killing even women and children for blood feud, which is not in accordance to the stipulations of the Kanun. ‘It’s not real blood feud like it is written in the Kanun. It has transformed.’ She also declared: ‘It’s more a justification nowadays because they are committing crimes and they say: ‘I did it for blood feud’. But for me, none of the cases after the 1990s is a real blood feud case.’

Also Rasim Gjoka from the Foundation for Conflict Resolution and Reconciliation of Disputes (AFCR) explained that ‘in most of the cases that are referred to with the term blood feud, people use the term blood feud in order to justify their heavy crimes. It is not true blood feud. It’s pure criminality.’ […]

The General Director from the Albanian State Police also stated that revenge cases, that most often are the consequence of criminal problems and individual conflicts or disputes, can happen to everyone and everywhere and are very often wrongly labelled as blood feud.” (CEDOCA, 29. Juni 2017, S. 11-12)

An einer weiteren Stelle des im Juni 2017 veröffentlichten Berichts von CEDOCA kommt ein Repräsentant der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zur Prävalenz von Blutfehden in Albanien zu Wort. Dieser habe gegenüber CEDOCA angeführt, dass Blutfehden in Albanien nach wie vor ein Problem seien: Solange ein Familienmitglied überlebe, würden einige Menschen weiterhin an einer Blutfehde festhalten. Und es gebe immer noch Opfer, die nach Gerechtigkeit streben würden. Das Thema Blutfehde ebbe in Albanien nicht ab. Alle Gesprächspartner von CEDOCA seien sich jedoch einig gewesen, dass die Zahl der von Blutfehden betroffenen Menschen allmählich abnehme. Die albanische Staatspolizei habe mitgeteilt, dass laut ihrem aktuellen Verzeichnis insgesamt 60 Familien von Blutfehden betroffen seien, fast alle davon im Norden des Landes. Diese Familien würden sich aus insgesamt 143 Personen zusammensetzen, darunter 40 Kinder:

„An OSCE [organization for security and co-operation in Europe]-representative stated that blood feud remains an issue in Albania: ‘As long as one family member remains, some people might keep doing it. And there are still victims seeking justice. The thing is not fading away here.’ However, all of Cedoca’s interlocutors agree that the number of people affected by blood feud is gradually decreasing. The Albanian State Police stated that, according to their current registers, 60 families in total are suffering from blood feud (nearly all in the north). These families altogether count 143 individuals, including 40 children.” (CEDOCA, 29. Juni 2017, S. 28)

Das US-Außenministerium (United States Department of State, USDOS) erwähnt in seinem im April 2018 veröffentlichten Menschenrechtsbericht, dass es im Jahr 2017 zu Morden und Rachemorden gekommen sei, die möglicherweise mit Blutfehden in Zusammenhang gestanden seien. Bis August 2017 hätten die Behörden allerdings nur einen Fall von Ermordung aufgrund einer Blutfehde gemeldet. Der Ombudsmann habe berichtet, dass die Bemühungen der Behörden zum Schutz der Familien und zur Verhinderung von Morden aufgrund von Blutfehden unzureichend seien, obwohl die Regierung ihre Bemühungen zur Verfolgung solcher Verbrechen verstärkt habe:

„Alleged incidents of societal killings, including both ’blood-feud‘ and revenge killings, occurred during the year, but as of August authorities had reported only one case of a blood-feud killing. The ombudsman reported that authorities’ efforts to protect families or prevent blood-feud deaths were insufficient, although the government increased efforts to prosecute such crimes.” (USDOS, 20. April 2018, Section 6)

Im aktuellen Menschenrechtsbericht des USDOS, der im März 2019 veröffentlicht wurde und sich auf das Jahr 2018 bezieht, finden weder Rachemorde noch Mordfälle aufgrund von Blutfehden Erwähnung. (USDOS, 13. März 2019)

 

Operazione Colomba, eine in Albanien tätige katholische Hilfsorganisation, veröffentlicht im Dezember 2017 einen Bericht zu Rache und Blutfehde in Albanien. Im Bericht wird angeführt, dass die Daten über die geografische und numerische Verteilung der Blutfehde-Fälle je nach Quelle erheblich variieren würden. Basierend auf den seit 2010 von Operazione Colomba erhobenen Ergebnissen würden die meisten Konflikte in den Vororten der Großstädte im Norden und im Zentrum des Landes auftreten. Seit 2011 dokumentiere Operazione Colomba Blutfehde- bzw. Rachefälle, über die in den albanischen und internationalen Medien berichtete werde. Daraus sei eine Datenbank entstanden, die auf den Tageszeitungen Panorama, Shekulli und Gazeta Shqiptare basiere, und durch weitere nationale Publikationen wie Shqip und Mapo sowie Nachrichten, die in der internationalen Presse und in Online-Medien veröffentlicht worden seien, ergänzt werde. Im Dezember 2017 habe die Datenbank 550 Fälle von Verletzungen, Mordversuchen und Ermordungen aufgrund von Rache oder einer Blutfehde enthalten. Von den 550 Fällen in der Datenbank habe es sich bei 48 um Fälle von Blutfehden und bei 275 um Rachefälle gehandelt. Zwischen Jänner 2015 und Dezember 2017 sei es zu 141 neue Rachefällen und 15 neuen Fällen von Blutfehden gekommen:

„Data on the geographic and numeric distribution of blood feuds varies considerably, depending on source. In terms of geographic distribution, most disputes occur in the suburbs of the big cities in the north and centre of the country, as Operazione Colomba research since 2010 has found. Since 2011 Operazione Colomba has been monitoring the cases of hakmarrja [Rache] and gjakmarrja [Blutfehde] reported in the Albanian and international media, especially since 2013. The resulting database relies on the following dailies: Panorama, Shekulli and Gazeta Shqiptare, supplemented by other national publications such as Shqip and Mapo and occasional news reported in the international press and online media. However, the data given in the articles we have examined also provides information on older cases that go back to the 1980s. At December 2017 the Operazione Colomba database included 550 cases of injury, attempted murder and murder caused by hakmarrja or gjakmarrja. Some articles specifically refer to blood feuds, while others have been classified as such by Operazione Colomba staff based on the information they contain and typical motives for blood feud. Yet other cases are still being monitored to check future developments. Of the 550 cases in the database, 48 are believed to be caused by gjakmarrja and 275 by hakmarrja. Some blood feuds are the result of previous hakmarrja that has degenerated into one or more cycles of gjakmarrja. The other cases are being monitored for possible eruption into blood feud. Compared with Operazione Colomba’s 2014 statistics, over the three years of the new period examined (January 2015 to December 2017) there have been 141 new cases of hakmarrja and 15 new cases of gjakmarrja.” (Operazione Colomba, Dezember 2017, S. 18-19)

Auf ihrer Webseite veröffentlicht Operazione Colomba monatliche Übersichten über Medienberichte zu Fällen von Rache und Blutfehden:

 

BBC News schreibt in einem Artikel vom November 2017, dass als Blutfehden bekannte Streitigkeiten sich häufig über Generationen erstrecken und Nachkommen, die nichts mit dem ursprünglichen Konflikt oder Mord zu tun hätten, betreffen würden. Obwohl sie bereits eine lange Geschichte vorweisen könnten, seien Blutfehden auch heute noch wirksam. Aufgrund von Blutfehden seien in der Region Shkodra im Norden Albaniens derzeit 68 Familien nicht in der Lage ihre Häuser zu verlassen:

„It is said that revenge is a dish best served cold and in Albania it can be served very cold indeed. Disputes known as blood feuds can span generations, sucking in descendants who had nothing to do with the original insult or murder. Though they have a long history, blood feuds remain potent today, with 68 families in the Shkodra region of northern Albania currently unable to leave their homes because of them.” (BBC News, 12. November 2017)

In einem Artikel der deutschen Zeitung Südwest Presse (SWP) erklärt der österreichische Südosteuropa-Experte Martin Prochazka zum Vorkommen von Blutrache auf Basis des albanischen Gewohnheitsrechts (Kanun) Folgendes:

„Wie viele praktizieren den Kanun heutzutage? Es handle sich um ein ‚Randphänomen‘, sagt Prochazka. Von drei Millionen Einwohnern etwa einige tausend. Nur Familien, die aus den Bergdörfern kommen, sagt er, und darunter nur die Konservativen. Die starke Landflucht in Albanien zum Ende des Kommunismus habe dazu beigetragen, dass das Gewohnheitsrecht auch in die Städte kam. Aber die Menschen in ‚vibrierenden albanischen Metropolen wie Tirana und Pristina kennen das in der Regel nur aus dem Fernsehen und finden den Kanun altmodisch, absurd‘. Prochazka, der häufig vor Ort war, sagt aus Erfahrung: ‚Die Stadtbevölkerung hat damit normalerweise nichts am Hut.‘“ (SWP, 14. Mai 2018)

In einem im April 2018 von der Europäischen Kommission veröffentlichten Fortschrittsbericht zum Stand der Vorbereitungen für die EU-Mitgliedschaft Albaniens wird angeführt, dass die Resolution und die Empfehlungen zu Blutfehden nach wie vor Folgemaßnahmen benötigen würden:

As regards the right to life, the Authority on Access to Information on the former State Security Service was established and a strategy was adopted in June 2017. However, the resolution and recommendations on blood feuds still require follow-up.” (Europäische Kommission, 17. April 2018, S. 26)

Laut einer über Legislationline, einer von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) betriebene Online-Plattform, veröffentlichten inoffiziellen englischen Übersetzung des albanischen Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1995 inklusive Novellierungen bis einschließlich Juli 2014 beziehen sich Artikel 78/a und Artikel 83/a und 83/b auf mit Blutfehden in Verbindung stehende Straftaten. Artikel 78/a zufolge wird eine Ermordung aufgrund einer Blutfehde mit mindestens 30 Jahren oder lebenslanger Haft bestraft. Die ernsthafte Androhung von Vergeltungsmaßnahmen oder Blutrache gegen eine Person, die aus diesem Grund ihr Zuhause nicht verlassen kann, wird laut Artikel 83/a mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet. Die Anstiftung anderer Personen zu Vergeltungsmaßnahmen oder Blutrache wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet, so Artikel 83/b:

„Article 78/a Murder due to blood feud (Added by law no.144, dated 02/05/2013, Article 15) Murder committed due blood feud shall be punishable to not less than 30 years or life imprisonment. […]

Article 83/a Serious threat to retaliation or blood revenge (Added up by law no 8733, dated 24.1.2001, Article 12; Amended by law no 9686, dated 26.2.2007, Article 8; the part foreseeing the punishment to a fine, as the main punishment, along with the imprisonment punishment, abrogated by the Law no 144, dated 2.5.2013, Article 48) Serious threat to retaliation or blood revenge, against a person for him to be locked up at home, shall be punished up to three years imprisonment.

Article 83/b Incitement to blood feud (Amended by law no 9686, dated 26.2.2007, Article 9; the part foreseeing the punishment to a fine, as the main punishment, along with the imprisonment punishment, abrogated by the Law no 144, dated 2.5.2013, Article 48) Inciting other persons to retaliation or blood revenge, when it does not constitute other criminal offence, shall be punished up to three years imprisonment.” (Strafgesetzbuch der Republik Albanien 1995, inklusive Novellierungen bis Juli 2014, inoffizielle englische Übersetzung)

CEDOCA geht im bereits erwähnten im Juni 2017 veröffentlichten Bericht unter anderem auf den staatlichen Schutz vor Blutfehden ein. Diesbezüglich habe der stellvertretende Innenminister gegenüber CEDOCA erklärt, dass die Behörden heutzutage Fälle von Blutfehden, die der Polizei bekannt seien, genau beobachten würden und dass das Phänomen der Blutfehde weitgehend unter Kontrolle sei. Seit 2013 stelle es kein Problem mehr dar. Die Menschen würden sich wieder sicherer fühlen. Wenn die Polizei um Schutz gebeten werde, kümmere sie sich auch darum.

Die Erklärung des stellvertretenden Ministers sei von zwei Mitgliedern der albanischen Polizeikräfte, die CEDOCA während der Fact-Finding-Mission im März 2017 getroffen habe, bestätigt worden. Der Generaldirektor der albanischen Staatspolizei habe angegeben, dass die Polizei seit dem Inkrafttreten des „Nationalen Aktionsplans Nr. 1277 (24.10.2012) zur Verhütung, Verfolgung und Bekämpfung von kriminellen, von Blutfehden motivierten Morden“ große Anstrengungen unternommen habe, um das Phänomen der Blutfehde zu beenden. Weiters habe er angeführt, dass heutzutage jeder Polizist wisse, wie in diesen Situation vorzugehen sei. Es gebe eine gute Zusammenarbeit zwischen der Polizei und mehreren anderen Organisationen (Staatsanwaltschaft, Gemeinden, Bildungsministerium, Sozialministerium usw.), die schnelle Interventionen und Verhaftungen ermögliche.

Der Vertreter der Regionalpolizeidirektion in Shkodër habe auf das Update des Nationalen Aktionsplan gegen Blutfehden verwiesen. Er habe betont, dass heutzutage verschiedene Polizeieinheiten (lokale Polizei, Geheimdienste, umfassendere Polizeiorganisationen) ständig alle relevanten Informationen über Blutfehden, die in ihrem Gebiet bekannt seien, sammeln und aktualisieren würden.

Gegenüber CEDOCA habe die Polizei weiters angegeben, neben der Kontrolle und Überwachung auch aktiv zur Verfolgung von Bürgern beizutragen, die in Blutfehden verwickelt seien. Beide Polizeiquellen hätten angeführt, dass Informationen zur Untersuchung und Prävention an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet würden, sobald es ernsthafte Hinweise auf eine drohende Straftat (z.B. eine Drohung) oder eine tatsächliche Straftat gebe. Weiters hätten beide Polizeiquellen Strategien zur Verhinderung neuer Blutfehden angeführt. Nach einem Mord würden die geschädigten Familien sofort proaktiv überwacht, um zu verhindern, dass sich eine Blutfehde entwickle. Man versuche, so viele Informationen wie möglich zu sammeln, um Faktoren zu identifizieren, die auf die Vorbereitung eines Rachemordes hinweisen würden, so die Polizeiquellen.

Der Gesprächspartner in der Regionalpolizeidirektion Shkodër habe darauf hingewiesen, dass Fahrlässigkeit von Polizeibeamten in Zusammenhang mit Blutfehden heutzutage hart bestraft werde. Man könne entlassen werden, wenn man Beschwerden der Bürger nicht weitergebe oder wenn man die zur Verfügung gestellten Informationen nicht überprüfe. Andererseits, so der Gesprächspartner, könne die Polizei nicht immer überall sein, da sie auch mit vielen anderen sozialen Aufgaben betraut sei:

The Vice-Minister of Internal Affairs declared to Cedoca that – generally speaking – the authorities are nowadays closely monitoring the known cases of contemporary blood feuds and that the phenomenon is largely under control. ‘Since 2013 it is not an issue anymore. People feel safer. If the police receive a request for protection, they deal with it.’

The statement by the Vice-Minister was repeated in more detail by two sources at the Albanian police forces whom Cedoca has met during the fact-finding mission. The General Director from the Albanian State Police claimed that the police have made a lot of efforts to end the blood feud phenomenon since the National Action Plan no. 1277 (dd. 24/10/2012) ‘On the prevention, tracking and fighting criminal acts of murder motivated by blood feuds’. He claimed that nowadays ‘each officer knows what to do’. He explained that a good cooperation has been established between the police and several other organizations (the Prosecutor’s Office, the municipalities, Ministry of Education, Ministry of Social Affairs, etc.) and that this cooperation facilitates quick interventions and arrests.

The representative from the Shkodër Regional Police Directorate referred to the National Action Plan 419 (which is the updated version of National Action Plan no. 1277) against blood feuds. He highlighted that nowadays different police structures (local police, intelligence officers, wider police structures) are permanently collecting and updating all relevant information with regard to known blood feuds in their area: ‘We are updating our information all the time now.’ […]

Apart from controlling and monitoring, the police also claimed to actively contribute to the prosecution of citizens who are involved in blood feuds. Both police sources claimed that as soon as there are serious indications of an imminent crime (e.g. a threat) or that a crime was committed, these elements are transferred to the Prosecutor’s Office for investigation and prevention. Lastly, both police sources explained their strategies to prevent new blood feuds. ‘When a murder has occurred, the damaged families are immediately monitored proactively in order to prevent that a blood feud will develop. The dynamics of a case are supervised now. We are trying to collect as much information as possible in order to identify elements that indicate the preparation of a revenge killing.’

Cedoca’s interlocutor at the Shkodër Regional Police Directorate indicated that negligence by police officers in matters related to blood feud are punished severely nowadays: ‘We can be fired if we do not deposit the complaints that are given by the citizens or if we do not verify information that is provided to us.’ On the other hand, he also mentioned that the police has to reckon with its ‘heel of Achilles’: Since they are tasked with many other social responsibilities as well, they cannot always be everywhere.” (CEDOCA, 29. Juni 2017, S. 32-33)

Während der Fact-Finding-Mission im März 2017 habe CEDOCA auch zwei Experten, Operazione Colomba und Elsa Ballauri, getroffen, die starke Zweifel daran geäußert hätten, dass die Polizei in der Lage sei, das gegenwärtige Phänomen der Blutfehde zu kontrollieren, zu überwachen, Blutfehden zu verhindern und strafrechtlich zu verfolgen. Obwohl sie sich einig gewesen seien, dass die Polizei heutzutage erreichbar sei, Bürger zumindest anhöre und Beschwerden entgegennehme, hätten beide betont, dass es immer noch zentrale Probleme in Bezug auf Nachlässigkeit und Ineffektivität innerhalb der Polizeikräfte gebe. Beide Quellen hätten angeführt, dass die Polizei ihre Ermittlungsarbeit viel besser machen könnte. Manchmal würden Verdächtige in einem aktuellen Blutfehde-Fall unmittelbar nach einem Vorfall verhaftet, die darauffolgende Untersuchung sei aber mangelhaft und die Verdächtigen würden wieder freigelassen.

Zahlreiche andere nichtstaatliche Quellen hätten jedoch angegeben, dass die Polizeikräfte ihre Aufmerksamkeit gegenüber dem Phänomen Blutfehde aufgefrischt und verstärkt hätten, und hätten auch die Effektivität der Polizei und deren Auswirkung auf die Verringerung des Phänomens anerkannt:

„During its fact-finding mission, Cedoca met two experts who expressed strong doubt that the police is capable of controlling, monitoring, preventing and prosecuting the contemporary blood feud phenomenon: Operazione Colomba and Elsa Ballauri. Although they agreed that the police is accessible nowadays and that the police is ‘at least’ hearing the citizens and that they are taking complaints now, they stressed that there are still very important issues of negligence and ineffectiveness at the heart of the police forces. They claimed that the police could do their investigation work much better. ‘Sometimes the suspects in a contemporary blood feud case are arrested immediately after an incident but what follows is a deficient investigation and the suspects are released again.’

However, multiple other non-governmental sources confirmed that the police forces have renewed and strengthened their attention to the phenomenon of contemporary blood feuds and have also acknowledged its effectiveness and impact on the decrease of the phenomenon” (CEDOCA, 29. Juni 2017, S. 33)

In einem weiteren Abschnitt des im Juni 2017 veröffentlichten CEDOCA-Berichts wird Latenz als eines der Charakteristika heutiger Blutfehden angeführt. Das beziehe sich auf die Beobachtung, dass Blutfehden im heutigen Albanien oft nicht von den beteiligten Personen an die Behörden gemeldet würden und auf die Beobachtung, dass diese Personen bewusst nichts berichten würden. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft würden sich die von Blutfehden betroffenen Familien in der Regel weigern, jemanden zu beschuldigen, zusammenzuarbeiten oder Informationen zu geben. Eine Repräsentantin der Generalstaatsanwaltschaft in Tirana habe sogar erklärt, dass es ein Problem hinsichtlich Beschuldigung gebe. Sie habe erklärt, dass es wichtig sei, einen Beschuldigten zu haben, von dem die Bedrohung ausginge, weil ansonsten kein Fall eingeleitete werden könne. Ein Vertreter der OSZE habe erklärt, dass die Funktionsweise der Behörden heute weniger problematisch sei, problematischer sei aber die Tatsache, dass Blutfehdefälle nicht gemeldet würden und häufig verborgen blieben.

Auch Elsa Ballauri habe erwähnte, dass Menschen nicht zur Polizei gehen würden, weil in der Vergangenheit nichts getan worden sei, nachdem sie eine Beschwerde eingereicht hätten. Sie habe angemerkt, dass die Menschen immer noch die Vorstellung hätten, dass die Institutionen nicht funktionieren würden. In diesem Zusammenhang habe Ballauri argumentiert, dass es die Möglichkeit gebe, dass die Polizei in einem Konflikt aufgrund von Korruption und Bestechung Partei ergreife. Menschen könnten sich außerdem nach der Einreichung einer Beschwerde unsicherer fühlen, weil dies ihre Feinde eher noch weiter gegen sie aufbringe. Liljana Luani, eine ehrenamtliche Lehrerin für von Blutfehde betroffene Kinder, habe erklärt, dass die Menschen in den meisten Fällen nicht zur Polizei gehen würden, um zu vermeiden, dass sich die Situation noch weiter verschlechtere:

„Latency refers to the observation that blood feuds in contemporary Albania are often not reported to the authorities by the persons who are involved and to the observation that these persons don’t report consciously: According to the Office of the Prosecutor, blood feud affected families generally refuse to denounce, collaborate or to give information. A representative from the Prosecutor’s General Office in Tirana even stated that there is ‘a problem of denunciation’. She explained that it is important to denounce because ‘we cannot start a case if we don’t know who’s threatening, when we don’t know who to call a defendant.’ A representative of the OSCE stated that the functioning of the authorities is less problematic nowadays, but what is more problematic is the fact that blood feud cases are not reported, that they remain hidden.

Elsa Ballauri also mentioned the fact that people do not go to the police because in the past nothing had been done after they had filed a complaint. She remarked that people still have the idea that the institutions are not functioning. Regarding this she argued there is a possibility the police will take sides in a conflict because of corruption and bribery […]. She also stated that people may feel more insecure after filing a complaint because their enemies are more likely to be more angry with them. Liljana Luani explained that in most cases people do not go to the police because they do not want the situation to further deteriorate” (CEDOCA, 29. Juni 2017, S. 23-24)

Das USDOS schreibt in seinem im März 2019 veröffentlichten Menschenrechtsbericht (Berichtszeitraum: 2018) zur Rolle der Polizei in Albanien, dass die Polizeikorruption nach wie vor ein Problem darstelle, obwohl die Regierung über Mechanismen zur Untersuchung und Bestrafung von Missbrauch und Korruption verfüge. Persönliche, politische oder kriminelle Verbindungen, schlechte Infrastruktur, Mangel an Ausrüstung und unzureichende Aufsicht würden oft den Gesetzesvollzug beeinflussen. Schlechte Leitung würde zu anhaltender Korruption und unprofessionellem Verhalten beitragen. Die Behörden hätten sich weiterhin bemüht, diese Probleme durch die Renovierung von Polizeieinrichtungen, die Modernisierung von Fahrzeugen und die öffentliche Betonung von Antikorruptionsmaßnahmen anzugehen. Die Straffreiheit bleibe ein ernsthaftes Problem, obwohl die Regierung größere Anstrengungen unternommen habe, um sie zu bekämpfen, insbesondere durch die verstärkte Verwendung von Kamerabeweisen zur Dokumentation und Nachverfolgung von polizeilichem Fehlverhalten:

While the government had mechanisms to investigate and punish abuse and corruption, police corruption remained a problem. […] Police did not always enforce the law equitably. Personal associations, political or criminal connections, poor infrastructure, lack of equipment, and inadequate supervision often influenced law enforcement. Poor leadership contributed to continued corruption and unprofessional behavior. Authorities continued to make efforts to address these problems by renovating police facilities, upgrading vehicles, and publicly highlighting anticorruption measures. […] Impunity remained a serious problem, although the government made greater efforts to address it, in particular by increasing the use of camera evidence to document and prosecute police misconduct.” (USDOS, 13. März 2019, Section 1d)

Etwas ältere Berichte zum Thema Blutfehde und staatlichem Schutz in Albanien finden Sie unter folgenden Links:

 

 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 20. März 2019)