15. April 2022

Kurzbeschreibungen zu den in dieser Anfragebeantwortung verwendeten Quellen sowie Ausschnitte mit Informationen aus diesen Quellen finden Sie im Anhang.

Generelles über den Stamm Gu’ran

Laut Angaben der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) von 2018 lebten Mitglieder des Gu’ran-Stammes zum Berichtszeitraum in der Stadt Al-Quriyah am südlichen Ufer und in den Dörfern Al-Tayanah und Al-Shinan am nördlichen Ufer [des Euphrats]. Der Stamm sei in die Fukhdhs (kleinere Einheit eines Stammes, Anmerkung ACCOD) Al-Shinan im Dorf Shinan, Al-Bu Awad und Al-Hassan Al-Aqraa in Al-Quriyah sowie Al-Hamad Al-Mohammed in Al-Tayanah unterteilt. Die Familien von Al-Mnadi in Al-Tayanah und Al-Hajji und Al-Abd Al-Mohammad in Al-Quriyah – die keinem Fukhdh entstammen –würden als die Würdenträger des Gur'an-Stammes gelten (KAS, Dezember 2018, S. 24).

Ein Syrienexperte mit Kontakten nach Deir Ez-Zor erklärte gegenüber ACCORD, dass Gur’an (القرعان) ein Clan oder Hamula des al-Uqaydat-Stammes (العقيدات) sei und aus mindestens vier Großfamilien bestehe. In Deir Ez-zor gebe es etwa 65.000 Gur’an-Mitglieder. Sie lebten hauptsächlich an zwei Orten, die durch den Euphrat getrennt seien:

1.     Die Stadt Al-Quriyah, die 70 km von der Stadt Deir Ez-zor entfernt liege und die Heimatstadt von etwa 50.000 Mitgliedern sei. Al-Quriyah sei einer der wichtigsten Orte in Deir Ez-Zor gewesen, der den syrischen Aufstand unterstützt habe und in dem später gut organisierte Rebellengruppen gebildet worden seien.

2.     Das Dorf Al-Tayanah, das die Heimat von 10.000-15.000 Gur’an-Mitgliedern sei (Syrienexperte, 6. April 2022).

Der Stamm Gu’ran und der Islamische Staat (IS) zwischen 2013 bis Ende 2017

KAS beschreibt, dass der IS nach anfänglichen Kämpfen in Deir ez-Zor begonnen habe, Allianzen mit Stämmen aufzubauen, unter anderem eine geheime Allianz mit dem Gur'an-Stamm aus Al-Tayanah (KAS, Dezember 2018, S. 31).

KAS schreibt weiter, dass der Gur'an-Stamm und viele Einwohner·innen von Al-Quriyah dem IS die Treue geschworen hätten (KAS, Dezember 2018, S. 32).

Der KAS-Bericht nennt folgende Beispiele von der Beziehung zwischen dem Gur'an-Stamm und dem IS:

·       Der IS habe Ende 2014 viele Stammesmitglieder hingerichtet, darunter Ubeida Abu Al-Hareth, ein Mitglied des Pro-IS-Stammes Gu’ran, der zuvor ein Emir der Nusra-Front gewesen sei (KAS, Dezember 2018, S. 34).

·       Mitglieder des Gu'ran-Stammes in Al-Tayanah hätten sich die Treueversprechen ihrer Mitglieder gegenüber dem IS zunutze gemacht und die Ölquellen des Al-Omar-Feldes kontrolliert (KAS, Dezember 2018, S. 36).

·       Der IS habe als Vermittler in einer Fehde zwischen dem Gu'ran-Stamm und dem Al-Bu Hasan-Stamm fungiert. Obwohl der Gu'ran-Stamm Mitglieder gehabt habe, die dem IS die Treue geschworen hätten, habe der Stamm 70 Millionen syrische Lira als Entschädigung für den durch ihren Angriff auf Al-Asharah verursachten Schaden zahlen müssen (KAS, Dezember 2018, S. 36-37).

Laut Al Jumhuriya, einer Onlineplattform, die im März 2012 von einer Gruppe syrischer Schriftsteller·innen und Akademiker·innen innerhalb und außerhalb des Landes gegründet wurde mit dem Ziel Syrer·innen selbst über die Situation im Land berichten zu lassen, hätten die militärischen Einheiten des Gu’ran-Stammes dem IS heimlich die Treue geschworen (Al Jumhuriya, 11. April 2017).

Mercy Corps schreibt, dass sich im Jahr 2014 Mitglieder der Gu'ran- (Schreibweise: Qaraan, Anmerkung ACCORD) und Al-Bakir Stämme mit dem IS gegen den Al-Shaitat-Stamm verbündet hätten, was zu einem Massaker an 300 Al-Shaitat-Stammesangehörigen und der Tötung von 400 weiteren in anschließenden Kämpfen geführt habe (Mercy Corps, 18. Juni 2020, S. 5).

Syria Direct berichtet in Bezug auf denselben Vorfall, dass Mitglieder des Stammes Al-Bakir und des mit dem IS verbündeten Stammes Gu'ran nach dem Massaker die verlassenen Häuser der Al-Shaitat-Familien geplündert hätten (Syria Direct, 13. September 2017).

Laut dem von ACCORD kontaktierten Syrienexperten sei nicht der gesamte Gu'ran-Stamm geschlossen hinter dem IS gestanden. Ähnlich wie jeder Stamm könne Gur’an nicht als ein einzelner Akteur oder eine Einheit betrachtet werden. Dies liege vor allem an der Fragmentierung des Stammes seit 2011. Es sei dem IS gelungen, Kontakte zu knüpfen und marginalisierte Mitglieder von Gur'an anzuziehen – vor allem Mitglieder des Stammes, die mit Anführern von Rebellengruppen verwandt gewesen seien. Der Zweck dahinter sei gewesen, die Spaltung des Stammes zu verschärfen und die Kontrolle über die Stadt zu erlangen (Syrienexperte, 6. April 2022).

Rekrutierung durch den Stamm Gu’ran von Personen für den Kampfeinsatz oder allfällige Kriegsverbrechen

Der Syrienexperte erklärte, dass der Stamm Gu’ran als Ganzes keine Einzelpersonen für den IS rekrutiert habe. Jedoch hätten Mitglieder des Stammes, die dem IS angehört hätten, sehr wohl für den IS rekrutiert.

Der Stamm selbst habe seine Mitglieder mehrfach zu eigenen Zwecken mobilisiert, um auf drohende Gefahren zu reagieren. Lokal als Faz’a (الفزعة) bekannt, sei diese Reaktion eine Vorkriegspraxis, bei der alle Mitglieder bereit sein sollten, im Namen der Gemeinschaft zu verteidigen oder anzugreifen. Im Großen und Ganzen sei diese Mobilisierung kurzfristig und diene Verteidigungszwecken (Syrienexperte, 6. April 2022).

Möglichkeit von Angehörigen des Stammes sich Rekrutierung zu entziehen

Der genannte Syrienexperte erklärte, dass Stämme generell keine Rekrutierungen durchführen würden. Ein Stamm befehle seinen Mitgliedern auch nicht, sich an Gewalttaten zu beteiligen. Die bereits beschriebene Praxis Faz’a (الفزعة) werde in gewalttätigen Kontexten als freiwillige Bereitschaft verstanden, eine Waffe zu tragen und an einem Kampf teilzunehmen. Stammesmitglieder würden nicht gezwungen, sich zu beteiligen, jedoch herrsche ein sozialer Druck teilzunehmen.

Laut Einheimischen aus Deir ez-Zor, die eng mit Personen aus dem Gu’ran-Stamm interagieren würden, sei es jedem Mann in jedem Alter möglich, die Teilnahme an einem Kampf ausdrücklich abzulehnen, egal ob er von einem normalen Stammesmitglied oder einer einflussreichen oder hochrangigen Persönlichkeit des Stammes um Teilnahme gebeten worden sei.

Eine Person, die Aufrufe zur Teilnahme an einem Kampf ablehne oder sich ihnen entziehe, müsse nicht mit ernsthaften Konsequenzen rechnen. Es gebe keine Berichte von Personen, die getötet, vom Stamm verstoßen worden seien oder eine Strafe aufgrund ihrer Weigerung bezahlten hätten. Es sei möglich, dass die Person als „Feigling“ bezeichnet werde.

Der Gu’ran-Stamm sei nicht dafür bekannt, hart gegen Mitglieder vorzugehen, die sich seinen Wünschen widersetzen. Der Stamm sei dafür bekannt, eine große Anzahl gebildeter Mitglieder zu haben (Syrienexperte, 6. April 2022).

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 15. April 2022)

·      Al Jumhuriya: ISIS and Clans in Deir Ez-Zor, Rebellion und Eindämmung [داعش والعشائر في دير الزور، التمرد والاحتواء], 11. April 2017
https://www.aljumhuriya.net/ar/37621

·      KAS – Konrad Adenauer Stiftung: Tribes and the Rule of the ‚Islamic State‘: The case of the Syrian city of Deir Ez-Zor, Dezember 2018
https://www.kas.de/documents/266761/4421641/Tribes+and+the+Rule+of+the+Islamic+State+Organization+-+Part+2.pdf/f342c609-141b-ea69-b30a-6ce01676661a?version=1.2&t=1545393667940

·      Mercy Corps: The Revival of ISIS in Deir-Ez-Zor, Situation Report, 18. Juni 2020
https://humanitarianaccessteam.org/sites/default/files/reports-docs/Situation%20Report_The%20revival%20of%20ISIS%20in%20Deir%20ez%20Zor_June%202020.pdf

·      Syria Direct: In eastern Syria, fears of revenge killings, tribal clashes after defeat of Islamic State, 13. September 2017
https://syriadirect.org/in-eastern-syria-fears-of-revenge-killings-tribal-clashes-after-defeat-of-islamic-state/

·      Syrienexperte: E-Mail-Auskunft, 6. April 2022

 

Anhang: Quellenbeschreibungen und Informationen aus ausgewählten Quellen

Die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) ist ein CDU-naher deutscher politischer Stiftungsverein, der sich durch politische Bildung für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit einsetzt und wissenschaftliche Grundlagen und Analysen für politisches Handeln entwickelt.

·      KAS – Konrad Adenauer Stiftung: Tribes and the Rule of the ‚Islamic State‘: The case of the Syrian city of Deir Ez-Zor, Dezember 2018
https://www.kas.de/documents/266761/4421641/Tribes+and+the+Rule+of+the+Islamic+State+Organization+-+Part+2.pdf/f342c609-141b-ea69-b30a-6ce01676661a?version=1.2&t=1545393667940

„Al-Gur’an tribe: The tribe is located in the town of Al-Quriyah on the southern bank and the villages of Al-Tayanah and Al-Shinan on the northern bank. It is divided into the fukhdhs of Al-Shinan in the village of Shinan, Al-Bu Awad and Al-Hassan Al-Aqraa in Al-Quriyah and the fukhdh of Al-Hamad Al-Mohammed in Al-Tayanah. The families of Al-Mnadi in Al-Tayanah and Al-Hajji and Al-Abd Al-Mohammad in Al-Quriyah – not issued from any fukhdh – are considered to be the dignitaries of the Al-Gur’an tribe.“ (KAS, Dezember 2018, S. 24)

„IS’ [Islamic State] battles to take over Deir ez-Zor began with an attack launched in September 2013 on Ahfad Al-Rasul’s factions in the governorate. […]

IS withdrew from the region to the city of Al-Shaddadi in the countryside of Al-Hasakah, where it built tribal alliances at three levels: […]

Secret alliances with individual opponents of the Nusra Front from members of the region’s tribes and factions. This included the Al-Gu’ran tribe from the Al-Tayanah village, which held a grudge against the Nusra Front after its attack on oil wells.“ (KAS, Dezember 2018, S. 31)

„In the eastern countryside of Deir ez-Zor, from Al-Gu’ran tribe and many inhabitants from Al-Quriyah had pledged allegiance to IS.“ (KAS, Dezember 2018, S. 32)

„IS executed many tribal members like Ubeida Abu Al-Hareth in late 2014, member of the pro-IS Al-Gu’ran tribe who was previously an emir in the Nusra Front.“ (KAS, Dezember 2018, S. 34)

„Despite IS’ keen adherence to denying tribal members any privileges in the oil sector, the members of the Al-Bu Chamel tribe in Dhiban next to the Al-Omar field and the members of the Al-Gu’ran tribe in Al-Tayanah, monopolized the investment of oil wells in the Al-Omar field. They effectively took advantage of their members’ pledges of allegiance to IS.“ (KAS, Dezember 2018, S. 36)

„Prior to IS’ control of the governorate, an armed conflict had erupted between the Al-Bu Hasan tribe from the city of Al-Asharah and the Al-Gu’ran tribe from the city of Al-Quriyah and ended without the two tribes reconciling. After IS took control of the region, members of the Al-Gu’ran tribe used their wide influence in the organization to obtain a decision from the Islamic Court, sentencing the Al-Bu Hasan tribe to pay a fine in compensation for damage to the properties of the Al-Gu’ran members. This happened despite the fact that the latter were the ones who had initiated the conflict and Al-Bu Hasan properties were the most affected. The Diwan succeeded in solving Al-Bu Hasan’s feud with the Islamic Court. In fact, IS sent a committee and some members from the Al-Gu’ran tribe from Iraq to consider their complaint. Despite the fact that the Gu’ran tribe has members who had pledged allegiance to the organization, they were ordered to pay 70 million Syrian Liras as compensation for the damage caused by their attack on Al-Asharah.“ (KAS, Dezember 2018, S. 36-37)

Mercy Corps ist eine globale nichtstaatliche humanitäre Hilfsorganisation.

·      Mercy Corps: The Revival of ISIS in Deir-Ez-Zor, Situation Report, 18. Juni 2020
https://humanitarianaccessteam.org/sites/default/files/reports-docs/Situation%20Report_The%20revival%20of%20ISIS%20in%20Deir%20ez%20Zor_June%202020.pdf

„Inter-tribal tensions persist. In 2014, members of the Qaraan and al-Bakir tribes aligned with ISIS against the Al-Shaitat tribe, resulting in the massacre of 300 Al-Shaitat tribesmen and the killing of 400 more in subsequent fighting.“ (Mercy Corps, 18. Juni 2020, S. 5)

Syria Direct wurde 2013 gegründet und ist eine Nachrichtenorganisation mit Sitz in Amman, Jordanien, die über Krieg und Politik in Syrien berichtet und Journalisten ausbildet.

·      Syria Direct: In eastern Syria, fears of revenge killings, tribal clashes after defeat of Islamic State, 13. September 2017
https://syriadirect.org/in-eastern-syria-fears-of-revenge-killings-tribal-clashes-after-defeat-of-islamic-state/

„In August 2014, IS [Islamic State] brutally suppressed a failed uprising by the Shaitat, another Ougeidat clan, in a small village southeast of Deir e-Zor city. To make an example of the plotters, IS marched more than 700 young Shaitat men into the desert where fighters filmed themselves decapitating and shooting the tribesmen.

Following the massacre, members of al-Bakir and another IS-allied tribe, the al-Qaraan, allegedly looted the abandoned homes of Shaitat families who had fled the province.“ (Syria Direct, 13. September 2017)