Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Erfordernis der Ausstellung von Obsorgebeschlüssen; Ausstellung innerhalb und außerhalb Afghanistans (Iran, Österreich) [a-11807]

12. Jänner 2022

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Auskünften von Expert·innen und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

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Allgemeine Informationen zu Obsorge in Afghanistan vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 finden Sie in folgenden ACCORD-Anfragebeantwortungen:

·      ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Obsorge: Reihenfolge nach Tod der Eltern, Kriterien, Verfahren zur Klärung, Sorgerecht und Vormundschaft in der rechtlichen und informellen Praxis [a-11457], 21. Jänner 2021
https://www.ecoi.net/de/dokument/2043997.html

·      ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Regeln für Obsorge, Adoption bei Waisen [a-10665], 27. Juli 2018
https://www.ecoi.net/de/dokument/1442910.html

Dr. Jawad Hassan Zadeh, ein im Vereinigten Königreich ansässiger Afghanistan-Experte, erteilte ACCORD am 11. Jänner 2022 in einer Email-Nachricht Auskunft über die Ausstellung von Obsorgebeschlüssen in Afghanistan. Dr. Hassan Zadeh gibt an, dass es in Afghanistan möglich sei, einen Obsorgebeschluss von einem Familiengericht anzufordern. Diese Beschlüsse seien jedoch nicht öffentlich zugänglich („these orders are not for public information).

Die von den Taliban im August 2021 gestürzte Regierung habe sich laut Dr. Hassan Zadeh in rechtlichen Fragen auf die Verfassung aus dem Jahr 2004, das Privatrecht sowie auf eine Reihe von Statuten gestützt. Die Taliban-Regierung erkenne die Verfassung von 2004 nicht an und die Taliban-Gerichte würden sich selektiv auf ältere Gesetze vergangener Regierungen ab dem Jahr 1960 stützen. Artikel 3 der Verfassung von 2004 habe islamisches Recht als Grundlage für alle familienrelevanten Fragen festgelegt. Seit 1980 seien Familien- und Eheangelegenheiten, darunter auch Fragen der Kindsobsorge in den Bereich des islamischen Rechts gefallen. Die Obsorge von Kindern betreffende Fälle würden nach wie vor von Richtern entschieden, die im islamischen Recht ausgebildet seien. Eheangelegenheiten würden an der zuständigen Kammer (Dewan) des Obersten Gerichtshofes von Afghanistan dokumentiert und die Entscheidungen zu zivilrechtlichen und familienrechtlichen Fragen würden nicht veröffentlicht. Der Oberste Gerichtshof fasse in halbjährlichen und jährlichen Berichten anonymisiert Daten zu zivil- und familienrechtlichen Fällen in Dari/Farsi zusammen. Afghanischen Anwält·innen sei es möglich, über das Gericht auf Erlässe zu Kindesobsorge zuzugreifen (Hassan Zadeh, 11. Jänner 2022).

Auch Ehsan Qaane, Jurist und Referent für Recht und Politik des Afghanistan Analysts Network, einer regierungsunabhängigen, gemeinnützigen Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, erteilte ACCORD am 10. Jänner 2022 in einem Email Auskunft über die Ausstellung von Obsorgebeschlüssen in Afghanistan. Qaane erläutert, dass Obsorgebeschlüsse in Afghanistan gemäß Artikel 12 und Artikel 16 des afghanischen Obsorgegesetzes von 2014 von einem dazu befugten afghanischen Gericht auszustellen seien. Artikel 24 sehe vor, dass alle Menschen, die vor Inkrafttreten des genannten Obsorgegesetzes die Obsorge über ein Kind innehatten, innerhalb eines Monats ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bei einem Gericht eine gerichtliche Entscheidung über die Fortsetzung dieser Obsorge zu beantragen gehabt hätten. In der Praxis würden Afghan·innen jedoch selten bei einem Gericht vorsprechen, um Obsorgefälle zu registrieren. Die Wahrscheinlichkeit auf Kinder zu stoßen, deren Obsorge nicht gerichtlich festgehalten worden sei und für deren Obsorge keine richterliche Verfügung vorliege, sei daher hoch.

In Bezug auf die Taliban-Regierung erläutert Qaane weiters, die Taliban hätten noch kein ordentliches Gerichtswesen aufgebaut. Manchen Berichten zufolge hätten Gerichte unter der Taliban-Regierung ihre Arbeit wiederaufgenommen. Qaane könne jedoch nicht bestätigen, ob das auf alle Provinzen zutreffe und ob auch jene Gerichte dazuzählen würden, die dazu befugt seien, Obsorgebeschlüsse auszustellen. Den von Qaane gesichteten Berichten zufolge würden die Taliban-Richter nicht auf Grundlage der Gesetze der vorangegangenen Regierung arbeiten, sondern auf Grundlage religiöser Bücher. Die Taliban hätten geäußert, dass sie die Verfassung aus dem Jahr 2004 sowie Gesetze, die gegen die Scharia verstoßen würden, nicht anerkennen würden. Das Rechtssystem der Taliban-Regierung entspreche derzeit weitgehend einem informellen System. Der Jurist äußerte Zweifel darüber, dass zum Zeitpunkt seiner E-Mail-Auskunft schriftliche Obsorgebeschlüsse durch die Taliban ausgestellt oder Kopien von solchen Beschlüssen durch die Taliban archiviert würden (Qaane, 10. Jänner 2022).

In Bezug auf die Ausstellung afghanischer Obsorgebeschlüsse im Ausland schreibt Qaane in seiner E-Mail-Auskunft, dass in der afghanischen Gesetzgebung nicht festgelegt sei, welche Instanz im Ausland Obsorgebeschlüsse ausstellen könne. Er sei sich nicht sicher, aber er denke, das afghanische Rechtssystem würde in Fällen, die den Personenstand betreffen, das Gesetz des jeweiligen Gastlandes als anzuwendendes Gesetz betrachten. Das Obsorgegesetz von 2014 verpflichte laut Qaane Obsorgeberechtigte im Ausland, dem jeweiligen Konsulat jährlich zur Lage des betroffenen Kindes Bericht zu erstatten (Qaane, 10. Jänner 2022).

Laut Dr. Hassan Zadeh würden Beschlüsse zu Kindesobsorge im Iran und in anderen islamischen Nachbarländern Afghanistans („Islamic neighbouring countries“) auf Grundlage der jeweils geltenden Gesetze dieser Länder ausgestellt. In europäischen Ländern sei es Familien, die Fragen zu Obsorge bevorzugt im Rahmen der Scharia durch einen muslimischen Gelehrten (Imam) anstelle eines Richters geklärt haben möchten, möglich, einen Scharia-Rat zu konsultieren. Dr. Hassan Zadeh nennt das Beispiel von Scharia-Gerichten für Muslime im Vereinigten Königreich, über die es möglich sei, eine alternative Streitbeilegung (Alternative Dispute Resolution - ADR) herbeizuführen. ADR-Entscheidungen seien im Vereinigten Königreich bindend, sofern das kodifizierte Recht des Landes nicht verletzt und keine Partei benachteiligt oder ihres Rechtes beraubt werde. Dr. Hassan Zadeh vermutet, dass in islamischen Gerichten anderer europäischer Länder ähnlich vorgegangen werde. Es sei möglich, bei Scharia-Räten in Europa die Ausstellung von Obsorgebeschlüssen anzufordern.

In Österreich würde möglicherweise eine begrenzte Anzahl von Beschlüssen zu Kindesobsorge existieren, die auf Grundlage von Scharia-Regelungen erlassen worden seien. Er gehe davon aus, dass Kopien solcher Beschlüsse angefordert werden können und dass manche Imame diese Dokumente auf Anfrage offenlegen würden.

Dr. Hassan Zadeh schildert weiters, dass Obsorgebeschlüsse im Iran gerichtlich festgehalten, jedoch nicht veröffentlicht würden (Hassan Zadeh, 11. Jänner 2022).

Auf der im Folgenden angeführten Webseite der Botschaft Afghanistans im Iran, deren letzter Eintrag auf der persischen Version sowie der Paschto-Version der Home-Seite vom 31. Juli 2021 stammt und die sich mit der Bezeichnung „Embassy of the Islamic Republic of Afghanistan“ noch auf die von den Taliban gestürzte Regierung bezieht, finden sich mit Stand 14. Jänner 2022 keine Informationen zur Ausstellung von Obsorgebeschlüssen. Auch auf dem Instagram-Account der genannten Botschaft sowie auf deren Facebook-Seite und deren Telegram-Seite finden sich keine Informationen zur Ausstellung von Obsorgebeschlüssen:

·      Botschaft Afghanistans in Teheran, Home-Seite, ohne Datum
https://afghanembassy.ir/

·      sefaratafg [Afghanische Botschaft in Teheran]: Instagram-Account (verfügbar auf Instagram, Zugriff am 14.01.2022)
https://www.instagram.com/sefaratafg/

·      sefaratafg [Afghanische Botschaft in Teheran]: Facebook-Seite (verfügbar auf Facebook, Zugriff am 14.01.2022)
https://www.facebook.com/Afghanistan·inIR

·      sefarat_afg [Afghanische Botschaft in Teheran]: Telegram-Seite (verfügbar auf Telegram, Zugriff am 14.01.2022)
https://t.me/s/sefarat_afg

Ebenso finden sich auf der Webseite der Botschaft Afghanistans in Wien und auf deren Twitter-Account mit Stand 14. Jänner 2022 keine Informationen zur Ausstellung von Obsorgebeschlüssen:

·      Botschaft Afghanistans in Wien, Home-Seite, ohne Datum
http://www.afghanistan-vienna.org/

·      AfghanMissionVienna [Afghanische Botschaft und ständige Vertretung in Wien]: Twitter-Account, (verfügbar auf Twitter, Zugriff am 14.01.2022)
https://twitter.com/afghanembpk


 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 12. Jänner 2022)

·      ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Obsorge: Reihenfolge nach Tod der Eltern, Kriterien, Verfahren zur Klärung, Sorgerecht und Vormundschaft in der rechtlichen und informellen Praxis [a-11457], 21. Jänner 2021
https://www.ecoi.net/de/dokument/2043997.html

·      ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Regeln für Obsorge, Adoption bei Waisen [a-10665], 27. Juli 2018
https://www.ecoi.net/de/dokument/1442910.html

·      AfghanMissionVienna [Afghanische Botschaft und ständige Vertretung in Wien]: Twitter-Account, (verfügbar auf Twitter)
https://twitter.com/afghanembpk

·      Botschaft Afghanistans in Teheran, Home-Seite, ohne Datum
https://afghanembassy.ir/

·      Botschaft Afghanistans in Wien, Home-Seite, ohne Datum
http://www.afghanistan-vienna.org/

·      Hassan Zadeh, Jawad: E-Mail-Auskunft, 11. Jänner 2022

·      Qaane, Ehsan: E-Mail-Auskunft, 10. Jänner 2022

·      sefaratafg [Afghanische Botschaft in Teheran]: Facebook-Seite (verfügbar auf Facebook)
https://www.facebook.com/Afghanistan·inIR

·      sefaratafg [Afghanische Botschaft in Teheran]: Instagram-Account (verfügbar auf Instagram)
https://www.instagram.com/sefaratafg/

·      sefarat_afg [Afghanische Botschaft in Teheran]: Telegram-Seite (verfügbar auf Telegram)
https://t.me/s/sefarat_afg