Konfliktporträt: China - Xinjiang

17.12.2017 | Von:

Kristin Shi-Kupfer

Kristin Shi-Kupfer

Zur Person

Dr. Kristin Kupfer ist Leiterin des Forschungsbereichs Politik, Gesellschaft, Medien am Mercator Institute for China Studies in Berlin. Von Mai 2007 bis Februar 2011 hat sie als freie Journalistin in Beijing gearbeitet.

China - Xinjiang

Durch einen massiven Ausbau des Sicherheitsapparats und Repression hat die chinesische Führung gewalttätige Attacken gegen Han-Chinesen und staatliche Einrichtungen eingedämmt. Seit Beginn des Jahres 2017 greift die lokale Regierung massiv in die Lebensgestaltung der muslimischen Uiguren ein.

 

 

[IMG | SOURCE: /cache/images/2/24032-3x2-article620.jpg?F0763 | ALT: Eine uigurische Frau mit Kind passiert ein zerstörtes Auto in der Regionshauptstadt Ürümqi (15.07.2009).] Eine uigurische Frau mit Kind passiert ein zerstörtes Auto in der Regionshauptstadt Ürümqi (15.07.2009). (© picture-alliance/AP)

 

Aktuelle Situation

Mit dem Amtsantritt des ehemaligen Parteisekretärs von Tibet Chen Quanguo im August 2016 hat China die Überwachung in der Region systematisch ausgebaut. Mit diesem Konzept hatte Chen bereits in den tibetischen Gebieten die eskalierenden Selbstverbrennungen gestoppt. Die lokale Regierung erließ eine Verschärfung des nationalen Anti-Terrorgesetzes und revidierte die Bestimmungen zur Prävention von jugendlicher Gewalt: Eltern dürfen ab sofort ihre Jugendlichen nicht mehr zur Teilnahme an religiösen Ritualen "zwingen". Ähnlich wie in der Autonomen Region Tibet hat Chen das Netz von lokalen Polizeiwachen ausgebaut und in seinem ersten Jahr rund 90.000 Stellen im Polizei- und Sicherheitsapparat neu besetzt – zwölfmal so viel wie noch vor zehn Jahren. Die XAR gilt als wichtige Kernregion der von Partei- und Staatschef Xi Jinping vorangetriebenen gigantischen geo-ökonomischen Initiative "Neue Seidenstraße".

Seit Beginn des Jahres 2017 greift die lokale Regierung massiv in die Lebensgestaltung der Uiguren ein: Nach dem Verbot u.a. von "abnormalen" Bärten und religiösen Heiratszeremonien untersagt die Behörden in einer zweiten Stufe muslimische religiöse Namen bei Neugeborenen, später wurden auch Jugendliche dazu verpflichtet "übermäßig" religiöse Namen abzulegen und sich neue zu suchen. Im Sommer erließen die Behörden dann Bestimmungen, die Uigurisch als Unterrichtssprache verbieten. Es ist unklar, ob diese Bestimmungen auf lokale oder regionalen Initiativen zurückgehen. Ende 2016 und Anfang 2017 fanden lediglich kleinere Attacken und Schießereien in einzelnen Teilen der XAR statt.

Andere Länder setzt Beijing zunehmend erfolgreich unter Druck, sie bei der Überwachung und ggf. Festnahmen und Auslieferung von Uiguren zu unterstützen: Vier Uiguren, die sich in Indonesien einer extremistischen Terrorgruppe anschließen wollten, wurden von der dortigen Polizei erschossen. Im Juli 2017 lieferte Ägypten mindestens ein Dutzend Angehörige der muslimischen Minderheit an China aus. Kurz darauf setzte die italienische Polizei den später zum neuen Präsidenten des Weltkongresses der Uiguren gewählten Dolkun Isa vorrübergehend fest.

[IMG | SOURCE: /cache/images/7/259677-st-article620.jpg?1BCD8 | ALT: Die rohstoffreiche Provinz Xinjiang] Die rohstoffreiche Provinz Xinjiang. [IMG | SOURCE: /sites/all/themes/bpb/images/icon_pdf_imtext.png | ALT: PDF-Icon] Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (mr-kartographie)

 

Ursachen und Hintergründe

Die Unruhen im Juli 2009 haben dem Xinjiang-Konflikt eine neue Dimension verliehen. Am 5.7.2009 waren friedliche Demonstrationen von Uiguren in der Regionshauptstadt Ürümqi nach Zusammenstößen mit Sicherheitskräften zu gewalttätigen Attacken gegen han-chinesische Passanten eskaliert. Nach offiziellen Angaben starben 197 Menschen, mehr als 1.600 wurden verletzt. Tage vorher hatten u.a. uigurische Exil-Gruppen im Internet zu Demonstrationen aufgerufen. Die Demonstranten forderten die Aufklärung des Todes zweier uigurischer Wanderarbeiter, die bei Auseinandersetzungen in einer Spielzeugfabrik in Südchina Ende Juni ums Leben gekommen waren. Gerüchte um die Vergewaltigung einer uigurischen Wanderarbeiterin hatten zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen geführt.

Wie in Tibet sind die Konflikte in Xinjiang durch ethno-politische Gegensätze bestimmt. Wachsende Religiosität und Autonomiebestrebungen unter Uiguren sowie die rigide Kontrollpolitik Beijings verschärfen den Konflikt weiter. Der 2004 aus verschiedenen Gruppen geformte Weltkongress der Uiguren mit Sitz in München setzt sich für das Recht auf politische Selbstbestimmung in "Ostturkistan" ein. Diese traditionell von Turkvölkern besiedelte Region umfasst Teile Afghanistans, Kasachstans, Kirgistans, Usbekistans und Westchinas.

Medienberichte über Verhaftungen von Uiguren im Ausland und Verbindungen zu unterschiedlichen internationalen Terrornetzwerken verkomplizieren und verschärfen den Konflikt zusätzlich. Uiguren sind laut chinesischen Medienberichten wiederholt an illegalen Grenzübertritten nach Vietnam gehindert worden. In Thailand griffen Behörden erstmals im November 2014 rund 100 dort illegal lebende Uiguren auf und schickten sie in die Volksrepublik zurück. Die Türkei hat Anfang Juli 2015 rund 175 Uiguren aufgenommen, die von China nach Thailand geflüchtet waren. Zuvor kam es in Ankara und Istanbul zu teilweise gewalttätigen Protesten von nationalistischen Türken gegen die chinesischen Behörden, die angeblich die uigurische Minderheit daran hindern, den Fastenmonat Ramadan zu begehen.

Beijing ist darüber besorgt, dass immer mehr Uiguren das Land verlassen – unter anderem, um sich dem sogenannten Islamischen Staat (IS) anzuschließen. Chinesische Zeitungen haben vermehrt von türkischen Staatsbürgern berichtet, die Uiguren in China mit falschen türkischen Pässen für ihre Ausreise in Richtung Ankara versorgen. Laut Angaben der chinesischen Zeitung "Global Times" befinden sich mindestens 300 Uiguren unter den Kämpfern des IS. Uiguren kämpfen aber auch in anderen islamistischen Terrororganisationen. An die 3.500 Uiguren waren laut ausländischen Medienberichten als Mitglieder der Islamischen Turkestan-Partei (Turkistan Islamic Party – TIP) an der Eroberung eines Luftwaffenstützpunktes der syrischen Armee beteiligt.

China selbst ist zunehmend ins Visier des IS geraten: Ende November 2015 hatte der IS erstmals eine chinesische Geisel hingerichtet. Anfang Dezember 2015 veröffentlichte die Terrormiliz dann den ersten Propagandasong auf Chinesisch. Unklar ist, ob der IS Angehörige der größten muslimischen Minderheit Chinas, der akkulturierten Hui, anwerben oder ein Warnsignal an alle Chinesen senden wollte.

Die anhaltende Serie von Anschlägen gegen Zivilisten in ganz China hat die chinesische Bevölkerung sehr verunsichert: am 1. März 2014 am Bahnhof von Kunming in der Provinz Yunnan mit 34 Toten; am 30. April 2014 am Bahnhof in Ürümqi mit mindestens drei Toten; am 18. September 2015 in einer Kohlemine in Süd-Xinjiang mit mindestens 50 Toten. Seitdem haben in öffentlichen Debatten islamophobe Äußerungen deutlich zugenommen.

Jegliche Infragestellung der territorialen Zugehörigkeit Xinjiangs zu China ist aus Sicht der Regierung in Beijing nicht nur politisch, sondern auch geostrategisch (Grenzen mit sechs Ländern) und wirtschaftlich unannehmbar. In der autonomen Region befinden sich rd. 30% der kontinentalen Ölreserven und 34% der Gasreserven Chinas. Die uigurische Bevölkerung profitiert aufgrund mangelnden Zugangs zu Bildungs- und Kapitalressourcen sehr viel weniger von der wirtschaftlichen Entwicklung als die sich zunehmend in der Region ansiedelnden Han-Chinesen. Uiguren sind zudem einem pauschalen Misstrauen sowie zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt.

 

 

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

[IMG | SOURCE: /cache/images/6/259646-st-article220.jpg?05258 | ALT: Ungleiche Entwicklung in China] Ungleiche Entwicklung in China. [IMG | SOURCE: /sites/all/themes/bpb/images/icon_pdf_imtext.png | ALT: PDF-Icon] Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (mr-kartographie)

Um eine umfassende Kontrolle über Xinjiang zu sichern, hat Beijing bereits 1954 die sog. Produktionsbrigaden (bingtuan) ins Leben gerufen. Heute umfassen sie rund 2 Mio. Menschen, davon sind über 80% Han-Chinesen. Mit autonomer Verwaltungsautorität über verschiedene Städte sowie eigener sozialer Infrastruktur ausgestattet, sollten sie das Grenzland wirtschaftlich erschließen und die Kontrolle über die Uiguren gewährleisten. Der Anteil der han-chinesischen Bevölkerung in Xinjiang ist von knapp 4% 1947 auf über 40% gestiegen.

Seit dem 11. September 2001 hat die chinesische Zentralregierung den Terrorismus-Vorwurf benutzt, um den Wunsch nach uigurischer Selbstbestimmung pauschal zu diskreditieren. Als Reaktion auf die Unruhen im Juli 2009 tauschte Beijing eine Reihe von hochrangigen Kadern in der Region aus. Im April 2010 löste Zhang Chunxian, vormals Parteisekretär der zentralchinesischen Provinz Hunan, den seit 1994 regierenden Wang Lequan ab. Staatsmedien kündigten nach der Explosion im Oktober 2013 ein "härteres Vorgehen" in Xinjiang an. Die Mitte November beschlossene Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates ermöglicht der chinesischen Regierung ein konzertiertes Vorgehen gegen bis dato nur vage definierte innere und äußere Bedrohungen. Mit dem im Dezember 2015 verabschiedeten Anti-Terrorgesetz hat China seine Politik auf eine deutlich verschärfte Rechtsgrundlage gestellt. Das Gesetz bietet mit einer sehr breiten Definition von Terrorismus den Behörden viel Raum für willkürliche und pauschale Repressionen gegenüber Uiguren.

Beijing hat sich auch die regionale Entwicklung auf die Fahnen geschrieben. Besonders im Süden der Region sollen die Infrastruktur und der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen verbessert werden. Anfang Januar 2015 beschloss der Staatsrat ein Programm zur gezielten Förderung der Textilindustrie in der Region bis 2020. Durch den Ausbau des Sicherheitsapparates hat der seit August 2016 im Amt befindliche Parteisekretär Chen Quanguo einerseits neue Arbeitsplätze – auch für Uiguren – geschaffen. Unternehmer, die Produkte im Kontext von Sicherheit anbieten, verdienen gut. Andererseits werden die privatwirtschaftlichen Aktivitäten von Uiguren wie auch von Han-Chinesen durch vermehrte Kontrollen stark beeinträchtigt. Chen hat im Herbst 2017 angekündigt, u.a. durch hohe Gehälter und geschenkte Wohnungen 30.000 han-chinesische Lehrer und Angestellte zu rekrutieren, um die Zuwanderung und den chinesischen Spracherwerb zu fördern.

Der bekannte uigurische Wirtschaftsprofessor Ilham Tohti, der auch im Kontakt mit han-chinesischen Intellektuellen mehrfach versuchte, in dem Konflikt zu vermitteln, ist Ende September 2014 wegen "Separatismus" zur lebenslanger Haft verurteilt worden. Tohti erhielt im Oktober 2016 den Martin Ennals Award und im Dezember 2017 den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar.
 

Geschichte des Konflikts

[IMG | SOURCE: /cache/images/8/259648-st-article220.jpg?7B013 | ALT: Ethnolinguistische Gruppen in China] Ethnolinguistische Gruppen in China. [IMG | SOURCE: /sites/all/themes/bpb/images/icon_pdf_imtext.png | ALT: PDF-Icon] Hier finden Sie die Karte als hochauflösende PDF-Datei Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/ (mr-kartographie)

Nach der Festigung der chinesischen Herrschaft durch die Produktionsbrigaden und der Gründung der autonomen Region Xinjiang (1955) kam es regelmäßig zu Protesten. Bei einer Revolte im Gemeindeverwaltungsbezirk Baren im April 1990 starben 50 Menschen. Auf die erste großangelegte Verhaftungswelle von Uiguren 1996 folgte im Februar 1997 der Aufstand von Ghulja/Yinning, bei dem mindestens neun Menschen starben. Nach wiederholten Bombenattacken mit Todesopfern und Repressionsakten in den 1990er Jahren blieb die Lage von 2000 bis 2007 überwiegend ruhig. Eine Bombenattacke auf eine Polizeistation in der Stadt Kashgar unmittelbar vor Beginn der Olympischen Sommerspiele 2008, bei der 16 chinesische Sicherheitsbeamte getötet wurden, kündigte die bis heute anhaltende Eskalation des Konflikts an.

Ähnlich wie im Tibet-Konflikt vertreten die uigurische und die chinesische Seite unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf die Geschichte Xinjiangs. Uiguren verweisen neben der Entstehung unabhängiger uigurischer Imperien in der Region des heutigen Xinjiang nach dem 8. Jh. besonders auf die Ausrufung der ersten Republik Ostturkistans durch Uiguren und andere Turkvölker im November 1933 im Gebiet um die Stadt Kashgar. Durch den Einfall von hui-chinesischen Warlords kam sie 1934 zu Fall. Von 1944 bis 1949 entstand mit sowjetischer Hilfe im Norden Xinjiangs die zweite Republik Ostturkistan, die durch die Ankunft der chinesischen Volksbefreiungsarmee zu Ende ging.

Aus Sicht der Uiguren haben die Chinesen damals den unabhängigen Staat gewaltsam besetzt. Für China war die Errichtung der 2. Republik Teil der kommunistischen Revolution. Die chinesischen Soldaten seien laut Beijing von den Uiguren als Befreier begrüßt worden. Auch verweist China auf die Zugehörigkeit der Region zum chinesischen Kaiserreich der Qing. 1882/84 schloss der damalige Kaiser Guangxu das Gebiet als Provinz mit dem Namen "Xinjiang" (Neues Land) dem Reich an.
 

Literatur

Brophy, David (2016): Uyghur Nation: Reform and Revolution on the Russia China Frontier Harvard University Press.

Clarke, Michael E. (2013): Xinjiang and China`s Rise in Central Asia. A History, London: Routledge.

Cliff, Tom (2016): Oil and Water: Being Han in Xinjiang. University of Chicacgo Press.

Dillon, Michael (2014): Xinjiang and the Expansion of Chinese Communist Power: Kashghar in the Twentieth Century, London/New York: Routledge.

Zhang, Shaoying/ McGhee, Derek (2014): Social Policies and Ethnic Conflict in China: Lessons from Xinjiang, Basingstoke: Palgrave Macmillan.
 

Links

European Institute for Asian Studies (2017): Xinjiang’s Socio Economic Development: The Role of OBOR, EIAS Briefing Seminar, June 23.

Famularo, Julia (2015): Chinese Religious Regulations in the Xinjiang Uyghur Autonomous Region: A Veiled Threat to Turkic Muslims?, Project 2049 Institute.

International Crisis Group (2013): China’s Central Asia Problem.

Pablo, Adriano Rodríguez (2013): Violent Resistance in Xinjiang (China): Tracking Militancy, Ethnic Riots and "Knifewielding" Terrorists (1978-2012).

Zenz, Adrian und James, Leibold (2017): Chen Quanguo: The Strongman Behind Beijing’s Securitization Strategy in Tibet and Xinjiang, China Brief, Vol. 17, Issue 12.

Kristin Shi-Kupfer

Zur Person

Dr. Kristin Kupfer ist Leiterin des Forschungsbereichs Politik, Gesellschaft, Medien am Mercator Institute for China Studies in Berlin. Von Mai 2007 bis Februar 2011 hat sie als freie Journalistin in Beijing gearbeitet.

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