Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Existenzmöglichkeiten alleinstehender Frauen und Mädchen [a-10346-2]

13. Oktober 2017

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[Passage aus dem Asylbericht des Auswärtigen Amtes entfernt]

 

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), eine Agentur der Europäischen Union, die die praktische Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Asylbereich fördern soll und die Mitgliedsstaaten unter anderem durch Recherche von Herkunftsländerinformationen und entsprechende Publikationen unterstützt, schreibt in einem Bericht vom August 2017, dass gemäß der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) Frauen, die alleine leben würden, in der Gesellschaft stigmatisiert würden. Abgesehen von einer kleinen weiblichen Elite sei es gesellschaftlich und kulturell für Frauen unmöglich, alleine zu leben. Unbegleitete Frauen, die vor Missbrauch flüchten würden, etwa Frauen, die nicht mit ihren Familien wiedervereint werden könnten, oder unverheiratete Frauen würden üblicherweise von der Gesellschaft nicht akzeptiert. Laut offiziellen statistischen Zahlen aus dem Jahr 2012 würden nur 0,4 Prozent der afghanischen Haushalte von weiblichen Vorständen geführt. Von diesen Haushalten seien 54,7 Prozent arm, im Gegensatz zu 36 Prozent der Haushalte mit männlichen Vorständen. Laut Forschungen aus dem Jahr 2008 zu chronisch armen Frauen gebe es nur wenige Haushalte mit weiblichen Vorständen, insbesondere in paschtunischen Gebieten, da Witwen und unverheiratete Frauen meistens als Teil eines anderen Haushaltes unter männlichem Schutz seien. In großen Städten gebe es mehr Haushalte mit weiblichen Vorständen als in ländlichen Gebieten, wo das soziale Netzwerk enger sei. Das Norwegian Refugee Council (NRC) betone, dass es unter den Binnenvertriebenen viele Witwen und weibliche Haushaltsvorstände gebe. Städtische Haushalte mit weiblichen Vorständen seien verletzlicher, weil es eine größere Armut, ein geringeres Einkommen, einen höheren Anteil von Personen ohne Landbesitz, beschränkte soziale und familiäre Netzwerke und eine größere Anfälligkeit für Übergriffe und Ausbeutung gebe. Die meisten Frauen, die Vorstand eines Haushalts seien, seien hauptsächlich von ihren sozialen Netzwerken oder, häufig irregulären, Hilfsleistungen („charity“) abhängig. Verwandte oder Nachbarn würden sie mit Essen, Kleidung und Medikamenten versorgen. Weibliche Haushaltsvorstände in städtischen Gebieten hätten 2008 angegeben, dass die Unterbringung und hohe Mietkosten die Hauptprobleme seien, mit denen sie konfrontiert seien, weil sie nicht in der Lage seien, regelmäßig Miete zu zahlen, und es schwer sei, eine Unterkunft zu finden, wenn sie ein Vermieter auffordere zu gehen.

Laut dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) seien unbegleitete Frauen, Witwen, geschiedene Frauen und Frauen, deren Männer verschwunden seien, einem größeren Risiko ausgesetzt, Opfer von Vergewaltigungen zu werden.

Zu niemals verheirateten Frauen merkt der Bericht von EASO an, dass die Lage von alleinstehenden Frauen in der männerdominierten afghanischen Gesellschaft sehr schwierig sei, da unbegleitete Frauen üblicherweise von der Gesellschaft nicht akzeptiert würden. Offizielle Statistiken würden darauf hindeuten, dass 92 Prozent der Frauen beim Erreichen eines Alters von 25 Jahren verheiratet seien. Mädchen und Frauen, die vor Zwangsehen flüchten würden, würden häufig von ihren Familien verstoßen und könnten wegen des Stigmas, weggelaufen zu sein, nirgendwo hingehen. Frauen und Mädchen könnten sogar wegen des Beschmutzens der Familienehre getötet werden. Diejenigen, die keine familiäre Unterstützung hätten, seien oft gezwungen, zu betteln oder sich zu prostituieren.

Zu geschiedenen Frauen schreibt der Bericht, dass laut verfügbaren Statistiken für Kabul, Herat und Balch weniger als ein Prozent der Bevölkerung als geschieden registriert sei. Das Institute for War and Peace Reporting (IWPR) weise in einem Artikel darauf hin, dass Scheidung immer noch als zutiefst beschämend empfunden werde. Die Anzahl der registrierten Scheidungen sei jedoch laut einem Vertreter der Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC), der für den Bericht interviewt worden sei, im Steigen begriffen und die Einstellung zu Scheidungen ändere sich langsam, insbesondere in städtischen Gebieten.

Zu Frauen, die zurückgelassen worden seien, also Frauen, deren Männer verschwunden seien oder die ohne Scheidung verlassen worden seien, schreibt EASO, dass sie sechs bis zehn Jahre nicht heiraten könnten und offenbar auch kein Eigentum für sich reklamieren könnten, wenn sie nicht wüssten, ob ihre Männer gestorben seien:

„According to UNAMA [United Nations Assistance Mission in Afghanistan], women living alone experience societal stigma, and UNHCR [UN High Commissioner for Refugees] explained that women who leave an abusive marriage face the risk of prosecution for zina. Apart from a small number of elite Afghan women, living alone is ‘socially and culturally impossible’ in Afghanistan. Unaccompanied women fleeing abuse, such as those who couldn’t be reunited with family or who were unmarried, were not commonly accepted by society.

According to official 2012 statistics, only 0.4 % of Afghan households are headed by women; however, 54.7 % of these households are poor, in comparison to 36 % of male-headed households. According to research on chronically poor women conducted in 2008, female-headed households, defined as the main breadwinner and decision-maker, were rare, particularly in Pashtun areas, because most of the time widows and unmarried women were under male protection as part of another household. Women-headed households are more numerous in big cities than in rural areas, where the social network is more tight-knit. NRC [Norwegian Refugee Council] emphasises that there is a high prevalence of widows and female heads of household among the internally displaced. Urban households headed by women are vulnerable because of higher poverty, lower income, higher rates of landlessness, limited social and family networks and vulnerability to abuse and exploitation. Often, in female-headed households children, especially boys, start working at a young age (usually at 12-13 years old) instead of getting an education. For children whose mothers are widowed, it often because boys must take over as head of the family. Most women who head a household rely mainly on their social networks or on – often irregular – charity. Relatives or neighbours provide them with food, clothes or medicines. Female heads of household in urban areas stated in a 2008 study that housing and high rental costs were key problems they faced due to the inability to regularly pay rent, and difficulty finding somewhere to live if landlords asked them to leave. […]

According to UNHRC [United Nations Human Rights Council], unaccompanied women, widows, divorced women and women whose husbands disappeared are at a greater risk of becoming victims of rape.

Never married women

In Afghan, male-dominated society, the situation of single women is very difficult as unaccompanied women are not generally accepted by society. Official statistics indicate that 92 % of women are married by the time they reach the age of 25. […]

Girls and women who try to escape from forced marriage are often rejected by their families and have nowhere to go due to the stigma of running away. Women and girls may be even killed for shaming the honour of the family. Those without any family support are often forced to become beggars or prostitutes to support themselves and their families. […]

Divorced women […]

Available statistics for Kabul, Herat and Balkh provinces show that less 1 % of population surveyed were listed as divorced. An article by IWPR [Institute for War and Peace Reporting] stated that divorce is still perceived as ‘profoundly shameful’, though, according to an AIHRC [Afghan Independent Human Rights Commission] employee interviewed for the report, the number of recorded divorce cases is increasing and attitudes are changing slowly, particularly in urban areas. In Balkh, while divorce is becoming more common, such cases are very difficult to settle. The majority of divorce cases are done through the AIHRC, however, ‘following them up in the formal justice system is difficult and outcomes are susceptible to influence due to corruption.’

Women left behind

There is yet another category of women whose status is less visible than widows – women whose husband has disappeared or simply left them without divorcing them. These women cannot remarry for 6 to 10 years, and do not appear to be able to claim property if they do not know whether their husband has died.

Households headed by married women

There are some households where a woman in the only breadwinner while she is married, often because her husband is old, ill, drug-addicted or disabled. According to the French NGO, Groupe URD [urgence rehabilitation développement], such women are also in a very difficult situation if they have no support or no male children to take over as the head of household.” (EASO, August 2017, S. 34-38)

In einem vom schweizerischen Staatssekretariat für Migration (SEM) im Juni 2017 veröffentlichten Bericht von Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network (AAN), finden sich folgende Informationen zu alleinstehenden Frauen:

„Es ist denkbar, dass alleinstehende Frauen allein leben, allein durch die Stadt gehen und allein in einem Minibus steigen. Das kommt aber nur im Promille-Bereich vor, weil die soziale Kontrolle und die auch in von den meisten Frauen verinnerlichten gesellschaftliche Konventionen sehr stark sind: Es ist eben nicht üblich. Viele Frauen halten sich auch daran, weil man sonst Zielscheibe von Angriffen werden kann. Dasselbe gilt für junge Ehepaare, die allein (d. h. getrennt von Eltern und Familie) leben wollen.

Es gibt inzwischen auch gut ausgebildete Frauen, die ein eigenes Einkommen haben und ihre Arbeit machen. Zumindest bis vor einigen Jahren wären sie auch mal alleine in Provinzen gereist, aber natürlich immer in einem institutionellen Rahmen, also als Teil ihres Jobs (das konnten sie gegenüber ihren Familien verteidigen). Auch schon damals wurde meistens ein männlicher Begleiter mitgenommen. Also sich in den Bus zu setzen und alleine loszufahren, halte ich für kaum möglich - vielleicht in grenznahen Gebieten in Einzelfällen.

Wer hier, im Westen, als alleinstehende Frau ankommt, hat möglicherweise Angehörige unterwegs verloren oder genug Geld, um sich ein Flugticket zu kaufen und legal einzureisen.“ (Ruttig, 20. Juni 2017, S. 20-21)

Das US-Außenministerium schreibt in seinem im März 2017 veröffentlichten Jahresbericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum: 2016), dass traditionelle gesellschaftliche Praktiken, darunter die Notwendigkeit, in Begleitung eines Mannes zu sein oder über die Einwilligung eines Mannes zu verfügen, um arbeiten zu dürfen, weiterhin die Teilnahme von Frauen an der Politik und an Aktivitäten außerhalb des Zuhauses einschränken würden. Unbegleitete Frauen seien in der Gesellschaft üblicherweise nicht akzeptiert. Frauen, die allein unterwegs seien oder außerhalb ihres Zuhauses arbeiten würden, seien häufig Übergriffen und Belästigungen ausgesetzt, darunter unsittliches Berühren oder Hinterhergehen. Am Arbeitsplatz würden Frauen diskriminiert und bedrängt. Frauen würden sieben Prozent der Arbeitskräfte ausmachen. Laut einer Umfrage der Asia Foundation von 2016 würden 74 Prozent der Bevölkerung befürworten, dass es Frauen erlaubt werden sollte, außerhalb ihres Zuhauses zu arbeiten. Aber nur 9,4 Prozent der befragten Frauen hätten angegeben, an Aktivitäten beteiligt zu sein, mit denen Geld verdient werde. Viele Frauen würden von ihren Verwandten unter Druck gesetzt, zu Hause zu bleiben. Zudem seien sie mit Einstellungspraktiken konfrontiert, die Männer bevorzugen würden. Ältere und verheiratete Frauen hätten berichtet, dass es für jüngere und alleinstehende Frauen einfacher sei, einen Job zu finden, als für sie. Frauen, die arbeiten würden, hätten berichtet, dass sie mit Beleidigungen, sexuellen Belästigungen, sowie fehlenden Transportmöglichkeiten und Betreuungseinrichtungen für ihre Kinder konfrontiert seien. In der Privatwirtschaft würden Frauen in Bezug auf das Gehalt diskriminiert. Journalistinnen, Sozialarbeiterinnen und Polizistinnen hätten berichtet, häufig bedroht zu werden und Übergriffen ausgesetzt zu sein:

Traditional societal practices continued to limit women’s participation in politics and activities outside the home and community, including the need to have a male escort or permission to work.” (USDOS, 3. März 2017, Section 3)

„Space at the 28 women’s protection centers across the country was sometimes insufficient, particularly in major urban centers, and shelters remained concentrated in the western, northern, and central regions of the country. Women who could not be reunited with their families or who were unmarried were generally compelled to remain in protection centers indefinitely, because ‘unaccompanied’ women were not commonly accepted in society. […]

Women who walked outside alone or who worked outside the home often experienced abuse or harassment, including groping, or they were followed on the streets in urban areas.” (USDOS, 3. März 2017, Section 6)

„Women continued to face discrimination and hardship in the workplace. Women made up only 7 percent of the workforce. According to the 2016 Asia Foundation survey, 74 percent of the population agreed that women should be allowed to work outside the home; nonetheless, only 9.4 percent of women in the survey said they were involved in any activity that involved making money. Many women faced pressure from relatives to stay at home and encountered hiring practices that favored men. Older and married women reported it was more difficult for them than for younger, single women to find jobs. Women who worked reported they encountered insults, sexual harassment, lack of transportation, and an absence of day-care facilities. Salary discrimination existed in the private sector. Female journalists, social workers, and police officers reported they were often threatened or abused.“ (USDOS, 3. März 2017, Section 7d)

Asylos, ein paneuropäisches Netzwerk von Freiwilligen, die Informationen für Asylverfahren recherchieren, zitiert in einem im August 2017 veröffentlichten Bericht Liza Schuster, Migrationsforscherin und Dozentin für Soziologie an der City University in London mit mehrjähriger Forschungserfahrung in Afghanistan. Diese habe bei einem Interview im April 2016 angegeben, dass Vermieter Wohnungen bevorzugt an Familien vermieten würden. Wenn es sich um eine Einzelperson handle, insbesondere eine Frau, werde die Wohnung nicht an sie vermietet, da man ihr gegenüber argwöhnisch sei. Üblicherweise benötige man beim Mieten einer Wohnung auch jemanden, der für einen bürge. Wenn man also nach Kabul komme und kein soziales Netzwerk habe, habe man niemanden, der für einen bürgen könne, was es sehr schwierig mache, einen Mietvertrag abzuschließen:

„The housing situation is very interesting because if you look around Kabul, there are dozens, if not hundreds of high rise buildings going up. They are incomplete, so it looks like there are lots of apartments available, but in fact they are being built up by a way of laundering money and so they are not actually intended for sale. They are also jerry built, so when there are big earthquakes, they would get knocked down. Also if you do find somewhere to rent, even though this is very difficult, people don’t want to rent unless it is to a family. So the expectation is that families will rent apartments. If a single person, especially a woman, even a man, in general it won’t be rented to him because he will be regarded with suspicion. Why isn’t he staying with an extended member of the family or with friends? If he is alone will be bringing women in, is he going to have male friends who will be drinking, is he going to disturb other members of the block? So homes are normally rented to families, you normally will know somebody who will vouch for you. If you don’t, and I’ve actually seen this, you might be able to persuade one of the estate agents to rent you a property but then they will follow up, they will have had a conversation with you to try and identify mutual acquaintances and go through the network until they can get some information about you. They will want to know, are you a good character, are you going to pay your bills? The good character is very important. So if you are arriving in Kabul and you don’t have a social network, you don't have somebody who can vouch for you, it becomes very difficult to get a contract. And it can also be withdrawn from you within days. (Source: Asylos Interview with Liza Schuster on 22 April 2016)“ (Asylos, August 2017, S. 63)

Das Norwegian Refugee Council (NRC), eine unabhängige, humanitäre, gemeinnützige Nichtregierungsorganisation (NGO), die Flüchtlingen und intern Vertriebenen auf der ganzen Welt Unterstützung, Schutz und dauerhafte Lösungen anbietet, veröffentlicht im Mai 2017 einen Bericht zur Lage von Frauen in Unterkünften für Binnenvertriebene bzw. RückkehrerInnen vor dem Hintergrund der Massenrückkehr von AfghanInnen aus Pakistan. Die für den Bericht befragten Frauen hätten angegeben, dass unter anderem etwas für alleinstehende Frauen und deren Kinder getan werden müsse, da diese am verletzlichsten seien. Sie hätten angegeben, dass Frauen mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert seien, aber Frauen, die keine Männer hätten und nicht in der Lage seien zu arbeiten, hätten noch mehr Probleme:

„The women in the focus group discussions in all four locations emphasized the importance of having single women and their children and families with disabled husband targeted as they are the most vulnerable. They conveyed that women are faced with lot of difficulties, but women without men not able to work have even more problems.“ (NRC, 15. Mai 2017, S. 11)

Im Rahmen eines Themenschwerpunkts aus der Zeitschrift ‚Asylmagazin‘ schreibt Friederike Stahlmann, die auf soziale, religiöse und rechtliche Fragen in Afghanistan spezialisiert ist, Folgendes:

„Eine Konsequenz aus der fehlenden sozialen Kontrolle ist, dass Kriminalität im Alltag auch bei privaten Akteuren nicht sanktioniert wird, solange nur die Vermutung besteht, dass der Täter Beziehungen oder Ressourcen hat, die ihn vor Sanktionierung schützen könnten. Opfer finden sich somit landesweit und in allen gesellschaftlichen Schichten, aber insbesondere unter jenen, von denen bekannt ist, dass sie über keine einflussreichen Kontakte verfügen, die dabei helfen könnten, sich zu wehren oder ihre Rechte zu verteidigen. Dies gilt für lokale Minderheiten wie Paschtunen unter Hazara in Bamyan oder Sikhs in Kabul. Lokale Minderheiten sind aber auch Vertriebene, die Minderheiten aufgrund ihrer Herkunft sind, also z. B. auch tadschikische Geflüchtete im tadschikischen Pandjir-Tal, die aus anderen Provinzen stammen. Betroffen sind weiterhin nicht nur alleinstehende Frauen, sondern auch Männer, deren Familien in anderen Landesteilen oder im Ausland leben.“ (Stahlmann, März 2017, S. 86)

Das niederländische Außenministerium (Ministerie van Buitenlandse Zaken, BZ) schreibt in einem im November 2016 veröffentlichten Bericht, dass Frauen in Afghanistan im Prinzip nicht allein leben würden. Etwas Derartiges sei kulturell nicht akzeptabel und die Ehre der Frau, und damit auch der restlichen Familie, sei sofort davon betroffen, was zu den damit verbundenen Konsequenzen führe. Die Frauen, die durch die Umstände gezwungen seien, alleine zu leben, seien trotz allem mit großen Schwierigkeiten konfrontiert und dem Risiko ausgesetzt, Opfer von sexuellem oder anderem Missbrauch zu werden und ein Leben in Armut führen zu müssen. Zu diesen Frauen würden Kriegswitwen und auch andere Witwen zählen, die alleine mit ihren Kindern leben würden. Junge Witwen mit Kindern seien besonders verletzlich. Für Frauen, die geschieden seien oder die ihren Ehemännern davongelaufen seien, sei es unmöglich, alleine zu leben. Sie seien häufig Opfer sexueller oder physischer Gewalt, was auch der Grund für das Weglaufen gewesen sei. Ihre Ehre sei beschmutzt und sie würden ausgegrenzt. Wenn sie keinen Platz in einem Frauenhaus bekämen oder nicht zu ihren Familien zurückkehren könnten, seien sie oft gezwungen, zu ihren Ehemännern oder den Schwiegereltern zurückzukehren. In den letzten Jahren hätten immer mehr Frauen in Frauenhäusern Zuflucht gesucht. Es gebe 28 Frauenhäuser in Afghanistan. Diese würden zu den wenigen Orten zählen, an denen Frauen sicher seien. Frauen, die nicht zu ihren Familien zurück könnten, seien häufig gezwungen, in den Frauenhäusern zu bleiben. Viele von ihnen würden auch auf der Straße enden. Da das Weglaufen von zu Hause als Moralverbrechen angesehen werde, würden viele Frauen ins Gefängnis kommen. In Gegenden, in denen es keine Frauenhäuser gebe, nehme die Polizei manchmal Frauen in Gewahrsam, um sie zu schützen. Es sei für Frauen in Afghanistan, auch für alleinstehende Frauen, üblich, außerhalb des Zuhauses von einem männlichen Familienmitglied (Ehemann oder männlicher Verwandte) begleitet zu werden. Dieses männliche Familienmitglied, der Ehemann oder direkte männliche Verwandte, die die Frau gemäß Scharia nicht heiraten könne, würden als mahram bezeichnet. Vor allem in ländlichen Gebieten sei dies unter Paschtunen noch sehr üblich. Wenn Frauen eine Reise machen würden, seien sie normalerweise auch in Begleitung eines männlichen Verwandten. Dieser beschütze die Frau unter anderem vor Belästigungen anderer Männer. Ohne mahram würden Frauen als Freiwild angesehen:

„The position of single women

In principle, women do not live alone in Afghanistan. Such a thing would be culturally unacceptable and the honour of the woman (and hence of the rest of the family) would be immediately affected, with all the associated consequences. Those women who are forced by circumstances to live alone despite this face great difficulties and are at risk of sexual and other forms of abuse and a life of poverty. Such women include war and other widows who live alone or with their children. Young widows with children are especially vulnerable. For women who are divorced or have run away from their husbands, it is not possible to live alone. Often they are victims of sexual or physical violence from their husbands, which is why they have left. Their honour is compromised and they are ostracised. If they are unable to get a place in a shelter or to return to their own family, they are often forced to return to their husbands or their in-laws. In recent years more and more women have found their way to the shelters. The police also sometimes advise them to go there. There are 28 official shelters for women in Afghanistan; they are one of the few places where women are safe. A number of NGOs also run shelters for women. Women who cannot be reunited with their families are often forced to remain in the shelter. Many of them also end up on the street. Since running away from home is regarded as a moral offence under sharia law, many women end up in prison (see below under Zina). In regions where there are no shelters, the police sometimes take women into custody to protect them.

In Afghanistan, it is customary for women – including single women – to be accompanied outside the home by a male family member (husband or male relative), known as a mahram. The following may be a mahram: the husband or immediate male relatives whom the woman may not marry under sharia law, i.e. father, brother, paternal and maternal uncles and nephews with whom marriages is proscribed for her under sharia law. Especially in rural areas this is still very common among the Pashtun. When women go on a journey, they also usually have a male relative with them. The male relative protects them against harassment from other men among other things. Without a mahram, women are seen as ‘fair game’.“ (BZ, 15. November 2016, S. 82-83)

In einem Bericht vom November 2016 zu Ausweispapieren in Afghanistan berichtet das NRC, dass die Tazkera in Afghanistan das Haupt-Ausweisdokument sei, das benötigt werde, um eine Reihe staatlicher Dienste (darunter Bildung) zu erhalten, um Arbeit im staatlichen Sektor und in großen Teilen des privaten Sektors zu finden. Die Tazkera werde auch benötigt, um andere Ausweisdokumente, etwa Pässe und Führerscheine, zu erhalten. Es sei jedoch so, dass Frauen viel seltener eine Tazkera besitzen würden als Männer. Um eine Tazkera zu erhalten, müsse die Frau ein entsprechendes Büro/Amt zusammen mit einem männlichen Verwandten besuchen, der dann erkläre, dass die Frau Teil der Familie sei. Daher könnten Frauen, die keine nahen männlichen Verwandten hätten oder deren männliche Verwandte nicht wollten, dass sie Ausweispapiere bekämen, keine Tazkera erhalten. Frauen hätten auch darauf hingewiesen, dass der Zugang zu Ausweispapieren „unmoralisches Verhalten“ seitens der Frauen erfordere. Eine alleinstehende Frau könne diese Dokumente nicht erhalten, da sie nicht alleine zu einer Regierungsorganisation gehen könne. Eine Frau könne diese Dokumente nur mit Unterstützung ihrer Familie erhalten:

„The tazkera is the primary Afghan personal identification document and is necessary to receive a variety of government services (e.g. education), employment in the government and large parts of the private sector. They are also necessary to obtain other identity documents such as passports and drivers’ licenses.” (NRC, 8. November 2016, S. 16)

„Gender is the key factor in terms of predicting possession of documentation, in particular tazkera. When it comes to tazkera, women are significantly less likely than men to possess them, across all provinces, displacement histories, age and income groups. […]

To obtain a tazkera, women must go to the relevant office with a male relative, who then declares them to be part of their family. Consequently, women without a close male relative – or whose male relatives do not wish them to get documentation – cannot receive a tazkera, which is crucial to receiving other documents such as passports. […]

Focus group respondents further raised the perspective that accessing documentation would require ‘inappropriate’ behaviour.

‘It is not possible for a girl (single woman) to get these documents because she can’t go to the governmental organizations alone. A woman cannot get these documents without the support of her family.’

Female Returnee FGD [Focus Group Discussions] respondents, Herat Province” (NRC, 8. November 2016, S. 29-30)

Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) hält in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom April 2016 Folgendes bezüglich der Situation alleinstehender Frauen und Frauen allgemein fest:

„Trotz Bemühungen der Regierung, die Gleichheit der Geschlechter zu fördern, sind Frauen aufgrund bestehender Vorurteile und traditioneller Praktiken, durch die sie marginalisiert werden, nach wie vor weit verbreiteter gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt. Frauen, die vermeintlich soziale Normen und Sitten verletzen, werden weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und allgemein diskriminiert. Außerdem ist ihre Sicherheit gefährdet. Dies gilt insbesondere für ländliche Gebiete und für Gebiete, die von regierungsfeindlichen Kräften (AGEs) kontrolliert werden. Zu diesen Normen gehören Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen, wie zum Beispiel die Forderung, dass eine Frau nur in Begleitung einer männlichen Begleitperson in der Öffentlichkeit erscheinen darf. Frauen ohne Unterstützung und Schutz durch Männer wie etwa Witwen sind besonders gefährdet. Angesichts der gesellschaftlichen Normen, die allein lebenden Frauen Beschränkungen auferlegen, zum Beispiel in Bezug auf ihre Bewegungsfreiheit und auf Erwerbsmöglichkeiten, sind sie kaum in der Lage zu überleben. Inhaftierungen aufgrund von Verletzungen des afghanischen Gewohnheitsrechts oder der Scharia betreffen Berichten zufolge in überproportionaler Weise Frauen und Mädchen, einschließlich Inhaftierung aufgrund „moralischer Vergehen“ wie beispielsweise dem Erscheinen ohne angemessene Begleitung, Ablehnung einer Heirat, außereheliche sexuelle Beziehungen (die als Ehebruch angesehen werden) und „Weglaufen von zu Hause“ (einschließlich in Situationen von häuslicher Gewalt).“ (UNHCR, 19. April 2016, S. 72-73)

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 13. Oktober 2017)

·      AA - Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 19. Oktober 2016

·      Asylos: Afghanistan: Situation of young male 'Westernised' returnees to Kabul, August 2017
https://asylos.eu/wp-content/uploads/2017/08/AFG2017-05-Afghanistan-Situation-of-young-male-Westernised-returnees-to-Kabul-1.pdf

·      BZ - Ministerie van Buitenlandse Zaken: Algemeen Ambtsbericht Afghanistan, 15. November 2016
https://coi.easo.europa.eu/administration/netherlands/PLib/Afghanistan_COI.pdf

·      EASO - European Asylum Support Office: EASO Country of Origin Information Report Afghanistan; Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City, August 2017 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1503567243_easo-coi-afghanistan-ipa-august2017.pdf

·      NRC - Norwegian Refugee Council: Access to Tazkera and other Civil Documentation in Afghanistan, 8. November 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/5228_1480344093_af-civil-documentation-study-081116.pdf

·      NRC - Norwegian Refugee Council: I'm on the Inside, He is on the Outside; Afghanistan Gender & Shelter Review, 15. Mai 2017
https://www.nrc.no/globalassets/pdf/reports/nrc-gender_and_shelter-rev-screen-030517.pdf

·      Ruttig, Thomas: Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul; Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12. April 2017, 20. Juni 2017 (veröffentlicht von SEM)
https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/asien-nahost/afg/AFG-alltag-kabul-d.pdf

·      Stahlmann, Friederike: Themenschwerpunkt Afghanistan (aus: Asylmagazin 3/2017), März 2017 (veröffentlicht von Informationsverbund Asyl und Migration, verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/6_1495100812_am17-3-thema-afghanistan.pdf

·      UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: UNHCR Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan, 19. April 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/90_1471846055_unhcr-20160419-afg-richtlinien-de.pdf

·      USDOS - US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2016 - Afghanistan, 3. März 2017 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/local_link/337140/479904_de.html