Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von geistig beeinträchtigten (minderjährigen) Personen [a-9886]

2. November 2016

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen sowie gegebenenfalls auf Expertenauskünften, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.

Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar. Alle Übersetzungen stellen Arbeitsübersetzungen dar, für die keine Gewähr übernommen werden kann.

Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen. Originaldokumente, die nicht kostenfrei oder online abrufbar sind, können bei ACCORD eingesehen oder angefordert werden.

 

Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees) bietet in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom April 2016 folgende Einschätzung zur Lage von Personen mit Behinderungen, insbesondere Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung:

„Personen mit Behinderung, insbesondere Personen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung, sind Berichten zufolge Misshandlungen durch Mitglieder der Gesellschaft ausgesetzt, darunter auch durch Angehörige ihrer eigenen Familien, da ihre Krankheit oder Behinderung als Bestrafung für von den Betroffenen oder ihren Eltern begangene Sünden betrachtet wird.“ (UNHCR, 19. April 2016, S. 75)

Im Länderinformationsblatt zu Afghanistan vom September 2015, das im Auftrag der Zentralstelle für Informationsvermittlung zur Rückkehrförderung (ZIRF) des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) von der International Organization for Migration (IOM) verfasst wurde, findet sich im Kapitel zu medizinischer Versorgung die Information, dass sich „[p]hysisch und geistig Behinderte, sowie Opfer von Missbrauch […] eine starke familiäre und gesellschaftliche Unterstützung sichern“ müssten (IOM, September 2015, S. 1).

 

Jean-François Trani, Ökonom an der Washington University in St. Louis (USA), sowie zwei weitere Autoren schreiben in der Kurzzusammenfassung eines wissenschaftlichen Zeitschriftenartikels vom März 2016 unter Verweis auf eine Studie, die zwischen Dezember 2012 und September 2013 durchgeführt worden sei, dass „Etikettierungen“ und negative Stereotypen in Zusammenhang mit bestimmten Ursachen von Behinderungen zu sozialer Exklusion führen würden, die sich wiederum auf die psychische Gesundheit niederschlagen würden:

„Drawing from a large sample of 1449 participants interviewed between December 2012 and September 2013 from an Afghan community-based rehabilitation program, we examined the structure of stigma associated with disability in Afghanistan. Labeling and negative stereotypes, associated with a specific cause of disability, result in social exclusion that in turn impacts mental health.” (Trani/ Ballard/ Peña, März 2016)

Jean-François Trani und Parul Bakhshi, eine ebenfalls an der Washington University in St. Louis tätige Sozialpsychologin, schreiben in einem wissenschaftlichen Zeitschriftenartikel aus dem Jahr 2013, der auf einer Studie von 5.130 Haushalten in allen 34 Provinzen Afghanistans basiert, dass insbesondere Personen mit angeborener Behinderung (die sogenannten „mayub“) von sozialer Exklusion betroffen seien. Im Gegensatz zum Wort „malul“, das für „erworbene“, d.h. mit eindeutig identifizierbaren Vorfällen wie Kriegsverletzungen und Arbeitsunfälle zusammenhängende Behinderungen stehe, verweise „mayub“ auf religiöse bzw. übernatürliche, ungeklärte Ursachen (z.B. auf den Willen Gottes, Geister, Dschinns, schwarze Magie, Schicksal etc.). Die Unterscheidung zwischen „mayub“ und „malul“ beeinflusse alle Lebensbereiche, darunter gesellschaftliche Akzeptanz und Selbstwertgefühl, Integration im Bildungsbereich, Zugang zum Arbeitsmarkt sowie Heirat. Mayub würden von der Gesellschaft systematisch ausgestoßen, da davon ausgegangen werde, dass ihre Behinderung mit ihrem Schicksal zusammenhänge. Diese Personen würden von der Gesellschaft für ihre Behinderung verantwortlich gemacht. Die von der Gesellschaft ausgehende Feindseligkeit zeige sich auch in beleidigenden Ausdrücken: So würden Mayub als „ungesund“ und als „Halb-Menschen“ angesehen. Solche Erfahrungen mit Feindseligkeit und Scham würden zu weiterer Isolation führen. Mütter würden etwa befürchten, dass ihre behinderten Kinder in der Schule misshandelt würden. Personen mit jeglicher Art von Lernbehinderung oder psychischer Erkrankung sowie auch Menschen mit Gehörproblemen würden umgangssprachlich als „Dewana“, d.h. Personen mit Problemen in Zusammengang mit der Psyche, bezeichnet. Fehlendes Verständnis für derartige Beschwerden und eine Unfähigkeit im Umgang mit Personen mit psychischen Problemen würden zu Vorurteilen und in weiterer Folge zu Exklusion und Ausgrenzung führen.

Wie die Autoren an anderer Stelle anführen, seien Personen mit Behinderungen in vielen Lebenssituationen von sozialer Stigmatisierung betroffen. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn eine Behinderung nicht auf eine klar erkennbare Ursache zurückzuführen sei, als „angeboren“ angesehen werde oder es dafür kein „Heilmittel“ gebe. Dies gelte vor allem für geistige Behinderungen. Aus der Forschungsliteratur gehe hervor, dass nicht nur die Einzelperson, sondern auch die Familie als Ganze Ziel von Vorurteilen werde. So würden solche Familien aus sozialen Netzwerken ausgeschlossen und Geschwister von geistig behinderten Personen würden häufig als für das Heiraten ungeeignet angesehen.

Die Ergebnisse der Studie hätten gezeigt, dass Frauen mit Behinderung einem besonders hohen Risiko psychischer Probleme ausgesetzt seien. Im Vergleich zu Frauen aus vergleichbaren Gesellschaftsschichten, die keine Behinderung oder eine körperliche Behinderung hätten, würden Frauen mit einer angeborenen Behinderung oder einer Behinderung mit ungeklärter Ursache mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht bzw. nicht wieder heiraten und folglich in größerer Armut und Isolation leben:

„Social exclusion is most commonly the fate of persons who were born with impairment: the mayub. The term itself also evokes religious and supernatural causes that are unexplained (God’s will, spirits, jinns, black magic, destiny, etc.), in contrast to ‘acquired’ forms of impairment (malul) that can be traced to an identified incident (war injury, work accident, etc.). This distinction between mayub and malul influences all spheres of life: social acceptance and self-esteem, integration into education, access to employment, as well as marriage. Mayub are systematically cast out as their impairment is considered linked to fate and as a result society holds them responsible for it. Social hostility translates into use of verbal abuse: Mayub as seen as ‘unhealthy’ or ‘half human’. Hostility and shame lead to more isolation. For instance, mothers are afraid their disabled children would be mistreated at school. People with any kind of learning or mental condition, from mental illness to depression, and people with hearing impairment as well, are designed with the colloquial term of Dewana, which translates in having something wrong with related to the mind (asab). Lack of understanding of these different conditions and the lack of ability to deal with people with a mental condition leads to prejudice and as a result exclusion and marginalisation.” (Trani/Bakhshi, 2013, S. 7)

„In Afghan society, people with disabilities face social stigma in many situations, particularly in instances when their disabilities cannot be linked with a clear cause or is believed to be ‘by birth’ (genetic or congenital) as well as when there is no ‘cure.’ This is particularly true for intellectual disability (Cerveau, 2011). Literature shows that prejudice is borne not only by the individual, but by the family as a unit, which is often excluded from social networks (Trani et al., 2009); siblings of a person with intellectual disabilities often are deemed unfit matches for marriage.

Results indicate that disabled women were a particularly vulnerable group at higher risk of experiencing mental distress-disorders. This finding is consistent with other studies that show that when women are socially excluded through disability, as well as due to widowhood, divorce or separation, their mental health deteriorates (Amowitz, Heisler & Iacopino, 2003; Lopes Cardozo et al., 2004; Rasekh, Bauer, Manos & Iacopino, 1998). The status of women is steeped in tradition, but has also been strongly influenced by recent political events. Traditionally, women have roles that limit their choices: gender roles and responsibilities constitute the basis of the social fabric. The role of wife and mother marks a major social accomplishment, and family unity is the central value. Forced marriages of young girls with older men are also a common cause of mental distress (Dupree, 2004, 2011). Family constitutes a support that widowed, divorced, and separated women cannot rely on, and as a result they are more at risk of mental suffering. For women with disabilities the compounded effect of these cultural factors is of particular concern. When their disabilities result from congenital diseases or unknown causes (with no medical diagnosis), women are less likely to marry (or re-marry) and thus become poorer and more isolated than nondisabled women or women who have a physical disability from similar social strata (Trani et al., 2009).” (Trani/Bakhshi, 2013, S. 23-24)

Der deutsche Auslandssender Deutsche Welle (DW) geht in einem älteren Artikel vom Dezember 2012 folgendermaßen auf die Situation von Personen mit geistiger Behinderung in Afghanistan ein:

Mohammad lebt mit seinen Eltern und seinen zwei Schwestern in einem ärmlichen Viertel von Kabul. Die ganze Familie leidet mit Mohammad mit. Wenn Mohammad besonders viel Unruhe verbreitet, schickt ihn die Mutter raus ins Freie, um seinen Lärm nicht ertragen zu müssen. Keine Schule nimmt Mohammad wegen seiner geistigen Behinderung auf. Förderschulen gibt es in Afghanistan nicht.

Mohammad sei als Kind oft krank gewesen, berichtet seine Mutter. Die Ärzte hätten ihr schon damals gesagt, dass sie den Jungen nur für viel Geld heilen könnten. ‚Wir haben aber nun mal kein Geld und können es uns nicht leisten‘, seufzt sie. ‚Wir hätten ihn sonst bestimmt zum Arzt geschickt.‘ Dass eine angeborene geistige Behinderung nicht heilbar ist, hat niemand Mohammads Mutter erzählt. Sie könnte ihren Sohn in die ‚Marastun‘ geben, eine psychiatrische Anstalt. Doch die gibt es nur in Großstädten - und ihr Ruf ist schlecht.

Für afghanische Frauen bergen geistige Behinderungen ein zusätzliches Problem: Sie können nicht verheiratet werden […]

In Kabul ist das Krankenhaus für psychisch Kranke die einzige Heilanstalt in der Hauptstadt. Die Klinik ist staatlich und bietet kostenlose Untersuchungen an. Dutzende Kranke sind hier untergebracht und werden von Dr. Sima betreut. ‚Schwerstbehinderte behandeln wir hier nicht. Die Kinder haben in Afghanistan zudem auch keine Möglichkeit, zur Schule zu gehen‘, sagt sie, ‚wenn sie einfache Dinge lernen, dann ist das schon eine große Errungenschaft.‘

Dr. Sima kritisiert, dass die Regierung und nichtstaatliche Organisationen keine speziellen Programme für Schwerstbehinderte haben. Diese würden sozial stark benachteiligt. Die Akzeptanz in der Gesellschaft sei zu niedrig. Eine geistige Behinderung werde als eklatanter Mangel angesehen. Die meisten dieser Menschen müssen ein ganzes Leben mit dem Stigma der ‚Verrücktheit‘ ein einsames Dasein führen […].“ (DW, 14. Dezember 2012)

Das österreichische Bundesverwaltungsgericht (BVwG) schreibt in einer Asylentscheidung vom September 2016 unter Berufung auf einen Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes (AA) vom November 2015 Folgendes zur medizinischen Versorgungslage von Personen mit psychischen Erkrankungen in Afghanistan:

„Die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - findet, abgesehen von einzelnen Pilotprojekten, nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt. Gleichzeitig leiden viele Afghaninnen und Afghanen unter psychischen Symptomen der Depression, Angststörungen oder posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS). In Kabul gibt es zwei psychiatrische Einrichtungen: das Mental Health Hospital mit 100 Betten und die Universitätsklinik Aliabad mit 48 Betten. In Jalalabad und Herat gibt es jeweils 15 Betten für psychiatrische Fälle. In Mazar-e Scharif gibt es eine private Einrichtung, die psychiatrische Fälle stationär aufnimmt. Folgebehandlungen sind oft schwierig zu leisten, insbesondere wenn der Patient oder die Patientin kein unterstützendes Familienumfeld hat. Traditionell mangelt es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie werden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen ‚behandelt‘, oder es wird ihnen in einer ‚Therapie‘ mit Brot, Wasser und Pfeffer der ‚böse Geist ausgetrieben‘. Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung sowohl über das Internet als auch in Form von Comics (für Analphabeten) zu betreiben. Die Bundesregierung finanziert Projekte zur Verbesserung der Möglichkeiten psychiatrischer Behandlung und psychologischer Begleitung in Afghanistan (AA 16.11.2015).“ (BVwG, 28. September 2016)

Weitere Informationen zu Behandlungsmöglichkeiten für Personen mit psychischen Krankheiten entnehmen Sie bitte folgender Anfragebeantwortung von ACCORD:

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Behandlungsmöglichkeiten für psychisch erkrankte/traumatisierte Personen in Kabul [a-9353-3 (9355)], 06. Oktober 2015 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/local_link/313597/451886_de.html

 

image001.gif 

 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 2. November 2016)

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Behandlungsmöglichkeiten für psychisch erkrankte/traumatisierte Personen in Kabul [a-9353-3 (9355)], 06. Oktober 2015 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/local_link/313597/451886_de.html

·      BVwG - Bundesverwaltungsgericht: 28. September 2016
https://www.ris.bka.gv.at/...1.../BVWGT_20160928_W163_2107782_1_00.rtf

·      DW - Deutsche Welle: "Verrückt" in Afghanistan, 14. Dezember 2012
http://www.dw.com/de/verr%C3%BCckt-in-afghanistan/a-16453404

·      IOM - International Organization for Migration: Länderinformationsblatt Afghanistan, September 2015 (veröffentlicht von ZIRF)
https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698704/698612/18363835/Afghanistan_-_Country_Fact_Sheet_2015%2C_deutsch.pdf?nodeid=17976938&vernum=-2

·      Trani, Jean-François/ Bakhshi, Parul: Vulnerability and mental health in Afghanistan: Looking beyond war exposure, 2013
http://openscholarship.wustl.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1039&context=brown_facpubs

·      Trani, Jean-François/ Ballard, Ellis/ Peña, Juan B.: Stigma of persons with disabilities in Afghanistan: Examining the pathways from stereotyping to mental distress. In: Social Science & Medicine, Vol. 153, März 2016
http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S027795361630079X

·      UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: UNHCR Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Asylum-Seekers from Afghanistan, 19. April 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/file_upload/90_1471846055_unhcr-20160419-afg-richtlinien-de.pdf