Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zu Zwangsverheiratungen von Männern; Möglichkeit für einen Mann, sich einer Zwangsverheiratung zu widersetzen [a-9750-3 (9752)]

16. August 2016

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Lutz Rzehak, Afghanistan-Experte und Professor am Zentralasien-Seminar des Instituts für Afrika- und Asienwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, schreibt in einer E-Mail-Auskunft vom 12. August 2016:

„Zwangsverheiratung betrifft natürlich immer Männer und Frauen, da die Eltern eines Jungen und die Eltern eines Mädchens eine Vereinbarung über eine Eheschließung treffen. Erfahrungsgemäß werden Jungen und Mädchen dabei gefragt, ob sie mit einer potentiellen Braut oder mit einem potentiellen Bräutigam einverstanden sind. Letzten Endes geht es aber um eine Vereinbarung zwischen zwei Familien. Es kann deshalb auch vorkommen, dass sich ein Junge dem Willen seiner Familie nicht anschließen möchte. Das liegt im Wesen des Konzepts, wonach Eheschließungen nicht zwischen zwei Individuen, sondern zwischen Verwandtschaftsgruppen vereinbart und vollzogen werden. Man hört seltener davon, dass sich ein Junge der vereinbarten Eheschließung entziehen möchte, aber das bedeutet nicht, dass es das nicht gibt.“ (Rzehak, 12. August 2016)

In einer Anfragebeantwortung vom April 2012 schätzt das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo es als wahrscheinlich ein, dass auch Männer, so wie Frauen, in Zusammengang mit Eheschließungen mit einem Grad an Zwang konfrontiert sein könnten, zumal die Institution der Ehe in erster Linie als Übereinkunft zwischen zwei Familien aufgefasst werde. In welchem Ausmaß die Braut bzw. der Bräutigam Einfluss üben könnten, sei abhängig von den sozioökonomischen Verhältnissen und davon, inwieweit das jeweilige Gebiet bzw. die betreffenden Familien traditionell bzw. konservativ geprägt seien:

„Landinfo finn det sannsynleg at også menn, på linje med kvinner, kan oppleve grad av tvang i samband med inngåing av ekteskap, når ekteskapsinstitusjonen primært blir oppfatta som ei avtale mellom to familiar. I kva grad brudgom og brud sjølv kan påverke, vil truleg variere ut frå sosioøkonomiske forhold, grad av tradisjon og konservatisme i gjeldande geografisk område, og mellom ulike familiar.” (Landinfo, 16. April 2012, S. 6)

Die dänische Einwanderungsbehörde (Danish Immigration Service, DIS) schreibt in einem Fact-Finding-Mission-Bericht vom Mai 2012 unter Berufung auf das afghanische Ministerium für Frauenangelegenheiten, dass junge Männer und Frauen, die soziale Normen in Bezug auf Heirat verletzen würden, indem sie sich etwa einer Zwangsehe widersetzen würden, in Afghanistan mit „riesigen“ Problemen konfrontiert seien. Um einer Zwangsehe zu entgehen, würden junge Männer und Frauen von zu Hause weglaufen. Doch viele dieser Männer und Frauen würden im Gefängnis landen:

„MoWA stated that young men and women, who are breaking social norms with regard to marriage, including rejecting a forced marriage, are facing huge problems in Afghanistan. […]

MoWA explained that to avoid a forced marriage young men and women run away from home. MoWA stated that according to the law, it is not a crime to run away from home, but many young males and females who run away from their homes end up in prison.” (DIS, 29. Mai 2012, S. 35)

Die unabhängige, in Kabul ansässige Forschungseinrichtung Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU) schreibt in einem Bericht vom Februar 2009, dass Jungen und Männer – so wie auch Mädchen und Frauen – manchmal gegen ihren Willen zu einer Eheschließung veranlasst würden. Dies könne sowohl für sie selbst als auch für die Frauen, die zu heiraten sie gezwungen würden, negative Folgen haben.

Während viel über die Konsequenzen von Zwangsverheiratungen von Mädchen geschrieben worden sei, gebe es kaum Informationen über Folgen für Einzelpersonen bzw. Familien in Fällen, in denen Jungen zwangsverheiratet würden. In Interviews, die AREU durchgeführt habe, hätten Männer häufig beschrieben, dass ihre Ehen erzwungen worden seien. Einige Männer hätten ihren Ärger und ihre Frustration über die Zwangsverheiratung an ihrer Ehefrau oder anderen Familienmitgliedern ausgelassen. Für viele Männer sei es nicht unbedingt die ausgewählte Frau, die ihrem Widerstand gegen die Zwangsehe zugrunde liege, sondern vielmehr der Zeitpunkt der Ehe:

„As well as girls and women, boys and men are sometimes made to marry against their wishes, which can have detrimental consequences for both them and the women they are forced to marry.” (AREU, Februar 2009, S. 25)

„Much has been written about the effects of forcing girls into marriages against their will; however, there is a dearth of information about the effects on the individual and family when the same happens to boys. Throughout the interviews with respondents, it was very common for men to describe their marriages as forced. Some men were found to have taken out their anger and frustration at having been forced into their marriages on their wives and other family members, pointing to a link between men feeling that they were forced into a marriage and the violence perpetrated against their wives. Similarly […], being forced into one marriage can lead some men to want to take a second wife of their own choosing. For many, it is not necessarily the woman selected for them that fuels their objection to the marriage but more the timing of the marriage.

Several younger men explained that they had wanted to continue their education or apprenticeships, but their families had insisted they get married. Cases were also found in which the family’s fears that their sons would engage in sexually or romantically deviant behaviour had led them to get their sons married earlier than when the boy wanted to or to someone they were not willing to marry. In two families, sons had been married because they were ‘in love with’ or were having some form of relationship with a girl who the family felt was not suitable, and so it was arranged for the boy to marry someone else in the hope that this would stop the relationship. In both of these cases, the men were reported to be abusive and neglectful of their wives, and these boys’ family members identified the way in which they had been married as the cause of the current levels of violence in their marriages.” (AREU, Februar 2009, S. 28-29)

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 16. August 2016)

·      AREU - Afghanistan Research and Evaluation Unit: Decisions, Desires and Diversity: Marriage Practices in Afghanistan, Februar 2009 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1227_1234792491_afghanistan.pdf

·      DIS - Danish Immigration Service: Afghanistan; Country of Origin Information for Use in the Asylum Determination Process; Report from Danish Immigration Service’s fact finding mission to Kabul, Afghanistan; 25 February to 4 March 2012, 29. Mai 2012
http://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/3FD55632-770B-48B6-935C-827E83C18AD8/0/FFMrapportenAFGHANISTAN2012Final.pdf

·      Landinfo - Norwegian Country of Origin Information Centre: Afghanistan: Homofili, 16. April 2012 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1383226030_2045-1.pdf

·      Rzehak, Lutz: E-Mail-Auskunft, 12. August 2016