Gefährliche Provinz

Indigene und ihre Landrechte werden nicht respektiert, wenn sie Wirtschaftsprojekten der indischen Regierung im Weg stehen. Insbesondere im Bundesstaat Chhattisgarh folgt auf Protest Repression und Gewalt.

Von Lisa Grund

Am 2. Oktober 2015 marschieren sie los: Rund 5.000 Männer und Frauen, auch einige Kinder sind darunter. Die Männer in Hemden und Hosen oder Dhotis, einer Art Wickelrock. Die Frauen in Saris, das eine Stoffende über den Kopf gezogen. Manche gehen barfuß, andere tragen Flipflops oder Schuhe. Es ist Mahatma Gandhis Geburtstag, das bedeutet Feiertag in ganz Indien.

Sie marschieren, nutzen Gandhis Methoden. Gandhi war 1930 zum großen Salzmarsch aufgebrochen. Als er an der Westküste Indiens ankam, las er ein paar Salzkörner auf und aß sie. Damit kämpfte er gegen das Salzmonopol der britischen Kolonialmacht - friedlich, wie es seine Philosophie besagte. Im heutigen Indien geht es nicht mehr um Salz, sondern meist um Kohle. Die 5.000 Männer und Frauen gehören fast alle zu den Adivasis, den indigenen Völkern Indiens, und leben im zentralindischen Bundesstaat Chhattisgarh. Dort sollen mehr als 16 Prozent des indischen Kohlevorkommens lagern - für die Menschen vor Ort ist es ein Fluch. Die Männer und Frauen marschieren für ihre Rechte an dem Land und seinen Rohstoffen; symbolisch werden sie am Ende ihres Protests kleine Mengen Kohle schürfen.

Etwa hundert Millionen Adivasis zählt Indien, das sind mehr als acht Prozent der Bevölkerung. In den Regionen, in denen sie leben, finden sich teils wichtige Rohstoffvorkommen: Kohle, aber auch Bauxit oder Eisenerz. Besonders Kohle ist von Bedeutung, darauf basieren in Indien 60 Prozent der Stromerzeugung. Infolge der Förderung verlieren Adivasis ihr Land und ihre Rechte daran, obwohl ihnen die indische Verfassung einen besonderen Schutz zusichert.
Tatsächlich leben Indigene, die für ihre Rechte kämpfen, gefährlich. Am 20. Februar 2016 wurde die bekannte Adivasi-Aktivistin Soni Sori in Chhattisgarh überfallen. Sie war mit dem Motorrad unterwegs, als drei Männer sie gewaltsam stoppen. Sie schmierten ihr eine schwarze, ätzende Masse ins Gesicht. Soni Sori kam später mit schweren Verbrennungen und Schmerzen ins Krankenhaus.

"Dass die Rechte der Adivasis verleugnet oder verletzt werden, ist das Ergebnis asymmetrischer Macht", sagt C.R. Bijoy. Der Menschenrechtsaktivist setzt sich seit Jahren für die indigenen Völker ein. Laut Gesetz müssen die Dorfversammlungen der Adivasis neuen Kohleminen des Staats oder privater Unternehmen zustimmen; sie müssen vorab informiert und konsultiert werden. Doch immer wieder werden Adivasis kurzerhand von ihrem Land vertrieben und verlieren damit ihre Existenz. Bijoy spricht von einer Militarisierung der Abbaugebiete durch teils massiven Einsatz von Polizeikräften und Paramilitärs. Sie schüchtern die Bevölkerung nicht nur ein, sondern helfen, Proteste im Keim zu ersticken. Die Dokumentarfilmerin Savita Rath, die öffentliche Anhörungen gefilmt hatte, wurde mehrfach bedroht, dem Umweltschützer Ramesh Agrawal wurde 2012 in die Beine geschossen.

Lokale Proteste und Bewegungen gegen Wirtschafts- und Entwicklungsprojekte stoßen Indiens Regierung übel auf - nicht erst seit Premierminister Narendra Modi und seine hindu-nationalistische BJP (Bharatiya Janata Party) an der Macht sind. 2014 hatte Modi die Parlamentswahl gewonnen. Im Wahlkampf hatte er versprochen, die Wirtschaft anzukurbeln und für Arbeit zu sorgen. Mit dem Slogan "Make in India" warb er im Ausland um Investitionen. Indiens Bevölkerung ist extrem jung, jedes Jahr drängen Millionen Menschen auf den Arbeitsmarkt - sie wollen gute Jobs. Modi möchte durchregieren: Industrialisierungs- und Entwicklungsprojekte sollen rasch und problemlos umgesetzt werden und dazu bedarf es nicht zuletzt der Rohstoffe aus den ländlichen Gebieten.

Nichtregierungsorganisationen, Aktivisten und lokale Protestgruppen, die ein sozial gerechtes und ökologisch nachhaltiges Wirtschaftswachstum fordern, stören. Im Juni 2014, kurz nach Modis Amtsantritt, gelangte ein Bericht des Inlandsgeheimdienstes an die Öffentlichkeit, der die vermeintlichen volkswirtschaftlichen Einbußen durch zivilgesellschaftliches Engagement bezifferte. Zwei bis drei Prozent seines Wirtschaftswachstums würde das Land jährlich einbüßen, weil Umwelt- und Menschenrechtsgruppen große Investitionsprojekte verhinderten. Seither verstärkt die Regierung den politischen Druck: Kritiker werden als anti-nationale Kräfte verunglimpft, die sich gegen die öffentlichen Interessen stellen.

Menschenrechtsverteidiger werden in die Nähe von Terroristen gerückt

Ein anderer Hebel, um die Gegenöffentlichkeit mundtot zu machen, sind drakonische Sicherheitsgesetze wie der "Unlawful Activities Prevention Act" aus dem Jahr 1967. Mithilfe der Gesetze werden Protestierende und Menschenrechtsverteidiger kriminalisiert und in die Nähe von Terroristen gerückt. Vor einigen Jahren erregte der Fall des Arztes Binayak Sen in den Adivasi-Gebieten Chhattisgarhs weltweit Aufsehen. Ihm wurden Verbindungen zur maoistischen Guerilla vorgeworfen, sodass er schließlich wegen Kriegsführung gegen den Staat angeklagt wurde.

Auch Journalisten werden auf diese Art zum Schweigen gebracht. Somaru Nag und Santosh Yadav, die ebenfalls in Chhattisgarh über Umweltverschmutzung und Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei berichtet hatten, wurden festgenommen und wegen Verschwörung und versuchten Mordes ­angeklagt. Selbst dort, wo keine Guerilla operiert, werden ­Protestierende zu Staatsfeinden gemacht. So etwa die Gegner eines Atomkraftwerks in Kudankulam an der Küste von Tamil Nadu. Mehr als fünfzig Personen, die friedlich protestiert hatten, wurden wegen Aufruhrs und Kriegsführung gegen den Staat verklagt.

Jedes Mittel scheint recht zu sein, um die Zivilgesellschaft zu bekämpfen. Die Regierung überzieht Organisationen mit Verleumdungen und Vorwürfen anti-nationaler Umtriebe und schreckt damit nicht zuletzt auch Spender aus dem eigenen Land ab. Das ist fatal, zumal viele Organisationen sich auch ­ihrer aus dem Ausland erhaltenen Gelder nicht sicher sein ­können, seit das sogenannte Gesetz zur Finanzierung aus dem Ausland die NGOs unter Druck setzt. Ausgehend von jenem vage formulierten Gesetz verlieren NGOs, die vermeintlich dem "öffentlichen Interesse" des Staates oder "wirtschaftlichen Interessen" schaden, die staatliche Registrierung, die notwendig ist, um aus dem Ausland Geld zu erhalten. Der finanzielle Aspekt ist jedoch nicht alles. Der Hinweis auf ausländische Gelder lässt die Arbeit der Organisationen auch als ausländische Einmischung in indische Angelegenheiten erscheinen - ein ­Argument, das in Indien selbst 70 Jahre nach dem Ende der ­Kolonialherrschaft immer noch große Aversionen schüren kann. Bei Investitionen scheint die ausländische Herkunft des Geldes allerdings weniger zu stören.

Kritik und Protest als Pflicht von Akteuren der Zivilgesellschaft

Gegen die Schikanen und Verunglimpfungen seitens der ­Regierung wehrten sich im Mai 2015 rund 200 Gruppen und ­Aktivisten der indischen Zivilgesellschaft. In einem offenen Brief an Premierminister Modi beklagten sie ein Klima der Einschüchterung und wachsenden politischen Druck. Kritik und Protest seien nicht per se anti-national, sondern das Recht und die Pflicht von Akteuren der Zivilgesellschaft.
Poonam Muttreja hat diesen Brief mit entworfen und unterzeichnet. Sie leitet die renommierte "Population Foundation ­India", die zu Fragen der Bevölkerungsentwicklung und -politik arbeitet. Muttreja erinnert sich an den Mai 2015: Fast 500 Aktivisten und Gruppen waren zusammengekommen, doch viele wollten den Brief nicht unterzeichnen - aus Angst. Denn Tausende Organisationen warten derzeit darauf, dass ihre Registrierung erneuert wird. Das geschieht alle fünf Jahre. Nachdem das Gesetz zur Finanzierung aus dem Ausland 2010 in Kraft trat, steht diese Neu-Registrierung nun erstmals für viele Organisationen an.

"Zurzeit sind viele Nichtregierungsorganisationen besorgt", sagt Muttreja. "Aber es ist wichtig, das Wort zu ergreifen." Die Regierung nehme die Organisationen als sehr negativ wahr. Doch diese Diagnose sei falsch, man arbeite nicht gegen die Regierung. Muttreja will vielmehr einen Dialog mit der Regierung. "Letztlich müssen Regierung und Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten und gegenseitiges Vertrauen sowie Respekt aufbauen."

Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Berlin.