a-7122-1 (ACC-RUS-7122-1)

Das vorliegende Dokument beruht auf einer zeitlich begrenzten Recherche in öffentlich zugänglichen Dokumenten, die ACCORD derzeit zur Verfügung stehen, und wurde in Übereinstimmung mit den Standards von ACCORD und den Common EU Guidelines for processing Country of Origin Information (COI) erstellt.
Diese Antwort stellt keine Meinung zum Inhalt eines Ansuchens um Asyl oder anderen internationalen Schutz dar.
Wir empfehlen, die verwendeten Materialien im Original durchzusehen.
 
Razita Kaimova, Mitarbeiterin der Norwegian Organization for Asylum Seekers (NOAS) gab in einem E-Mail vom 12. Februar 2010 folgende Auskunft: Man könne sich in Tschetschenien grundsätzlich sofort nach der Hochzeit trennen. Es sei jedoch wünschenswert, eine Weile zu warten, da sonst die Umgebung annehmen könnte, dass der Grund für die Scheidung die fehlende Jungfräulichkeit der Braut sei, und das sei ein sehr ernstes Problem.
Wenn sich nach der Hochzeit herausstelle, dass die Braut nicht jungfräulich in die Ehe gegangen sei, sei es üblich, dass der Bräutigam die Frau mit Schande nach Hause schicke und ihrer Familie den Grund nenne. Die Verwandten könnten die Frau entweder töten oder den Mann ausfindig machen, der sie entjungfert habe, und ihn dazu bringen, sie zu heiraten. Häufiger würden sie jedoch die Frau töten.   
Bei einer Heirat sei es die Hauptsache, dass ein Mullah das beiderseitige Einverständnis von Braut und Bräutigam feststelle, dann habe die Ehe Gültigkeit. Auf das Standesamt könne man auch nach zehn Jahren Ehe noch gehen, müsse aber nicht, dies habe keinerlei Einfluss auf die Gültigkeit der Ehe.
Die BewohnerInnen Tschetscheniens würden sich an die Normen des Adat halten, des traditionellen Regelwerks der tschetschenischen Gesellschaft, dem mehr Gewicht als religiösen Vorschriften beigemessen werde (Kaimova, 12. Februar 2010).
 
Auf der Website Countries and Their Cultures findet sich eine undatierte Beschreibung der traditionellen tschetschenisch-inguschischen Gesellschaft, in der erwähnt wird, dass eine Frau ihren Klan nach tschetschenischer Tradition durch unanständiges Verhalten oder Unkeuschheit entehren habe können, vor allem durch den Verlust der Jungfräulichkeit vor der Heirat. Frauen seien das Eigentum ihres Hausherren und des weiteren ihres Klans gewesen, und ihre Sittsamkeit, vor allem Jungfräulichkeit bis zur Heirat, sei streng bewacht worden. Eine nicht-jungfräuliche Braut sei abgewiesen und in Schande und „unverheiratbar“ hinterlassen worden:
“A woman could dishonor clan and household by immodest public behavior or by nonchastity (especially nonvirginity at marriage); […]
Women were, for all practical purposes, owned by the immediate head of household (father or brother, husband) and ultimately by his clan. Their chastity, especially their virginity before marriage, was jealously guarded. Rape made a woman unmarriageable (and since elopement was minimally distinguishable from rape, a change of mind on the man's part in the first days could render the woman permanently unmarriageable). A nonvirgin bride was rejected and left disgraced and unmarriageable (but traditional custom seems to have given young men little experience that would enable them to judge virginity with great accuracy). Nevertheless, especially prior to the conversion to Islam, a certain amount of sexual freedom for married women is suggested in some folklore and historical sources.”
In einem russischen Pressearchiv, Archiw Pressy, ist eine Reportage der Zeitung Moskowskij Komsomolez (MK) vom Februar 2005 über Polygamie in Tschetschenien zu finden, in der erwähnt wird, dass ein Mädchen „unbedingt“ als Jungfrau in die Ehe gehen müsse. Zum Thema Scheidung heißt es, diese sei zwar eine große „Sünde“, aber wenn eine Frau etwas Unehrenhaftes getan habe, dann sei die Scheidung der direkte Weg aus dieser Situation. Unehrenhaft sei zum Beispiel ein Betrug oder „hysterisches Benehmen“:  
„И, наконец, девушка, безусловно, должна выходить замуж девственницей. […]
- А можно с женой развестись?
- Вообще, по нашим законам - это большой грех. Но на самом деле, если жена совершила какую-то позорную вещь, то развод - прямой выход из ситуации.
‚Позорной вещью’ считаются измены, истеричное поведение. […]“ (MK, 12. Februar 2005)
Die Nachrichtenagentur PR-inside veröffentlicht im Juni 2009 die Information, dass tschetschenische Staatsanwälte angegeben hätten, einen jungen Mann verhaftet zu haben, der seine Schwester wegen „unmoralischen Verhaltens“ erschossen habe. Seit Herbst 2008 seien etwa 30 Frauen im Alter zwischen 18 und 27 Jahren getötet worden oder verschwunden. Präsident Kadyrow habe kurz zuvor gemeint, manche der Opfer seien von ihren männlichen Verwandten zu Recht wegen ihrer lockeren Sitten getötet worden:     
“ROSTOV-ON-DON, Russia (AP) - Prosecutors in Chechnya say they have detained a young man accused of shooting his sister to death in an honor killing.
Prosecutors say the young man has confessed to killing his sister with multiple gunshots because of her ‘immoral behavior’. They said in a statement Saturday that the murder was the latest in a string of killings and disappearances of women in the region. About 30 women aged 18 to 27 have been killed or gone missing since last fall.
Chechnya's Kremlin-backed leader Ramzan Kadyrov said recently that some of the victims were rightfully shot by their male relatives for their ‘loose morals’. Kadyrov has carried out a campaign to impose Islamic values and strengthen the traditional customs of predominantly Muslim Chechnya.” (PR-inside, 20. Juni 2009)
Die St. Petersburg Times geht in einem Beitrag vom März 2009 auf die Verteidigung von Ehrenmorden durch den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow ein. Im Zusammenhang mit der Ermordung von sieben Frauen habe er erklärt, dass diese durch unmoralisches Verhalten die Erschießung durch Verwandte verdient hätten. Kadyrow führe eine Kampagne für die Einführung islamischer Werte und die Stärkung der tschetschenischen Traditionen. Laut Kritikern schaffe er eine Diktatur, in der das russische Gesetz nicht gelte.
Der Menschenrechtsaktivistin Natalja Estemirowa zufolge würden jedoch durch die Tradition bedingte Morde an Frauen im Verborgenen ausgeführt, damit möglichst niemand erfahre, dass sich jemand in der Familie falsch verhalten habe. In den vorliegenden Fällen habe es große Begräbnisse gegeben, was man nicht mache, wenn die Tote die Familie entehrt habe. 
MenschenrechtsaktivistInnen würden befürchten, dass Kadyrows Einverständnis mit Ehrenmorden die Durchführung solcher Morde fördern würde. Ehrenmorde würden als Teil der tschetschenischen Tradition betrachtet. Es gebe zwar keine Aufzeichnungen, Menschenrechts­aktivistInnen würden jedoch schätzen, dass jährlich Dutzende Frauen umgebracht würden. Eine tschetschenische Frauenrechtsaktivistin, Gistam Sakaewa, befürchte, dass es auch grundlose Morde geben könnte, um die Gunst des Präsidenten zu gewinnen. Auch könnten die tschetschenischen Behörden weniger zur strafrechtlichen Verfolgung Verdächtiger bereit sein: 
“The bullnecked president of Chechnya emerged from afternoon prayers at the mosque and with chilling composure explained why seven young women who had been shot in the head deserved to die. Ramzan Kadyrov said the women, whose bodies were found dumped by the roadside, had ‘loose morals’ and were rightfully shot by male relatives in honor killings. ‘If a woman runs around and if a man runs around with her, both of them are killed,’ Kadyrov told journalists in the capital of this Russian republic.
The 32-year-old former militia leader is carrying out a campaign to impose Islamic values and strengthen the traditional customs of predominantly Muslim Chechnya, in an effort to blunt the appeal of hardline Islamic separatists and shore up his power. In doing so, critics say, he is setting up a dictatorship where Russian laws do not apply. […]
‘If women are killed according to tradition then it is done very secretly to prevent too many people from finding out that someone in the family behaved incorrectly,’ said Natalya Estemirova, a prominent human rights activist in Grozny.
Estemirova said two of the women were married, with two children each. Their husbands held large funerals and buried them in the family plot, which would not have happened if the women had disgraced their families, she said. […]
Rights activists fear that Kadyrov's approval of honor killings may encourage men to carry them out. Honor killings are considered part of Chechen tradition. No records are kept, but human rights activists estimate dozens of women are killed every year.
‘What the president says is law,’ said Gistam Sakaeva, a Chechen activist who works to defend women's rights. ‘Because the president said this, many will try to gain his favor by killing someone, even if there is no reason.’
Sakaeva also said she worried that Chechen authorities would now be less willing to prosecute men suspected of killing women.” (The St. Petersburg Times, 3. März 2009)
Im Menschenrechtsbericht des US Department of State (USDOS) vom Februar 2009 hingegen heißt es, Präsident Kadyrow habe sich gegen die besagten Frauenmorde und für die Ermittlung der Täter ausgesprochen. Ende des Jahres 2008 habe es jedoch keine Verhaftungen diesbezüglich gegeben:
“A series of murders of young women took place in November in Chechnya. According to the head of Chechnya's Investigation Committee, a likely motivation for the murderer or murderers was the women's refusal to adhere to Muslim traditions. President Kadyrov spoke out against the killings and called for the perpetrators to be brought to account, but there were no arrests by year's end.” (USDOS, 25. Februar 2009, Sec. 5)
Auf der Website Peace Women (Women's International League for Peace and Freedom) befindet sich ein Artikel vom Juli 2003 über steigende Zahlen von Brautentführungen in Tschetschenien. Darin wird ein Ethnograph mit der Aussage zitiert, dass Eheschließungen und Scheidungen in Tschetschenien sehr einfach seien. Für eine Heirat komme ein Mullah ins Haus und segne das Paar, für eine Scheidung müsse der Mann lediglich vor zwei Zeugen erklären, dass die Frau nicht mehr seine Ehefrau sei:    
“He [Ethnographer Said-Magomed Khasiev] says that Chechen custom values the free expression of will by young people, promoting sinmarsho or ‘freedom of the soul,’ with a relaxed approach to both marriage and divorce.
For a marriage to take place, a mullah comes to the house and after checking that the couple and their parents agree, performs a blessing. Divorce is even easier, with the husband simply declaring in the presence of two witnesses, ‘From this moment you are no longer my wife.’” (Peace Women, 7. Juli 2003)
Auf der Website Islam Online wurde im Jänner 2006 ein Beitrag über Frauen und Jugend in Tschetschenien veröffentlicht, der auch das Thema Scheidung behandelt. Ein Mann habe das Recht, seine Frau aus dem Haus zu weisen, und das Leben von geschiedenen Frauen sei in der männer-dominierten tschetschenischen Gesellschaft sehr schwierig. Wie weit eine Frau bei der Scheidung ihre Rechte durchsetzen könne, hänge von der Religiosität der Familie des Mannes ab.
Die Familie des Ehemannes habe großen Einfluss auf das Leben einer Frau, sie könne den Mann auch zu einer Scheidung zwingen, wenn sie mit seiner Frau nicht zufrieden seien:
“Divorce
Chechen society has a long way to go before Islam shines in all aspects of people's lives. Whether or not a woman receives her rights when she is divorced depends on how religious her husband's family is. Usually the man is free to kick his wife out of the marital home (against the teachings of Islam) and to take their children from her (which is also against the teachings of Islam). A woman cannot usually defend herself or gain custody of her children. Living in a male-dominated society makes the lives of divorced and widowed women very difficult. Nowadays, it is not easy for women to get married because so many men have been killed in wars. If a woman doesn't get married, she will most likely be treated with suspicion.
Even in an unhappy marriage, most Chechen-Ingush women prefer to stay in their marriage rather than to face divorce. They know that there is a big chance of being kicked out of their husband's house without anything, humiliated, and then being forbidden custody of their children.
The husband's relatives have a great influence on women's lives. They are very often responsible for the happiness or unhappiness of the married couple because they commonly interfere in the couple's affairs to control their daughter-in-law. They can even force the husband to divorce his wife if they are not pleased with her. […]” (Islam Online, 30. Jänner 2006)
In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine weiteren Informationen zu oben genannten Fragestellungen gefunden werden.
Es wurden weitere externe ExpertInnen mit der Fragestellung kontaktiert. Sobald eine Antwort einlangt, liefern wir sie Ihnen umgehend nach.
 
 

Quellen:(Zugriff auf alle Quellen am 26. Februar 2010)
·       Countries and Their Cultures: Chechen-Ingush - Sociopolitical Organization, ohne Datum
http://www.everyculture.com/Russia-Eurasia-China/Chechen-Ingush-Sociopolitical-Organization.html
·       Islam Online: Women and Youth in Chechnya, 30. Jänner 2006
http://www.islamonline.net/servlet/Satellite?c=Article_C&cid=1158321458409&pagename=Zone-English-Youth%2FYTELayout
·       MK - Moskowskij Komsomolez: Reportasch is garema, 12. Februar 2005 (veröffentlicht auf der Website Archiw Pressy)
http://cargobay.ru/news/moskovskijj_komsomolec/2005/2/12/id_48698.html
·       NOAS - Norwegian Organization for Asylum Seekers, Razita Kaimova: E-Mail-Auskunft, 12. Februar 2010
·       Peace Women: Chechen bride snatching on the rise, 7. Juli 2003
http://www.peacewomen.org/news/Chechnya/newsarchive03/Chechenbrides.html
·       PR-inside: Suspect detained in honor killing in Chechnya, 20. Juni 2009
http://www.pr-inside.com/suspect-detained-in-honor-killing-in-r1335275.htm
·       The St. Petersburg Times: Chechen President Kadyrov Defends Honor Killings, 3. März 2009
http://www.sptimes.ru/index.php?story_id=28409&action_id=2
·             USDOS - US Department of State: Country Reports on Human Rights Practices 2008 - Russia, 25. Februar 2009
http://www.state.gov/g/drl/rls/hrrpt/2008/eur/119101.htm