Amnesty International Report 2023/24; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Saudi Arabien 2023

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Die Behörden nahmen 2023 erneut Menschen ins Visier, die ihre Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit friedlich wahrnahmen. Einige von ihnen wurden nach grob unfairen Gerichtsverfahren zu langen Freiheitsstrafen oder zum Tode verurteilt. Menschenrechtsverteidiger*innen waren weiterhin willkürlich in Haft oder unterlagen Reiseverboten, nachdem man sie unter Auflagen aus dem Gefängnis entlassen hatte. Gerichte verhängten in grob unfairen Verfahren Todesurteile, auch gegen Personen, die zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Straftat noch minderjährig waren. Menschen wurden für eine Vielzahl von Straftaten hingerichtet. Migrant*innen erlitten schwere Menschenrechtsverletzungen, wie z. B. Tötungen an der Grenze zum Jemen und eine Behandlung, die möglicherweise Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft gleichkam. Im Zuge landesweiter Repressalien gegen Migrant*innen ohne gültige Papiere wurden Tausende gegen ihren Willen in ihre Heimatländer abgeschoben. Frauen wurden weiterhin durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert.

Hingergrund

Am 28. November 2023 fand in Brüssel der dritte Menschenrechtsdialog zwischen Saudi-Arabien und der Europäischen Union statt. Die EU zeigte sich besorgt angesichts der Verhängung langer Haftstrafen für Social-Media-Aktivitäten und der fortdauernden Anwendung der Todesstrafe in Saudi-Arabien, u. a. auch für Drogendelikte und Straftaten ohne Todesfolge.

In dem seit Jahren andauernden bewaffneten Konflikt im Jemen war die von Saudi-Arabien angeführte Militärallianz 2023 weiterhin an Kriegsverbrechen und anderen schweren Verstößen gegen das Völkerrecht beteiligt (siehe Länderkapitel Jemen).

Recht auf Meinungsfreiheit

Das Sonderstrafgericht für terroristische Straftaten verurteilte Personen, die u. a. auf X (vormals Twitter) friedlich ihre Rechte auf Meinungs- oder Vereinigungsfreiheit wahrgenommen hatten, in grob unfairen Verfahren zu langen Haftstrafen.

Unfaire Gerichtsverfahren

Die Behörden nahmen weiterhin willkürlich Personen in Haft und verweigerten ihnen die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung anzufechten. In vielen Fällen wurden sie in Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren auf Grundlage vager und pauschaler Anklagen, die z. B. friedliche Opposition als "Terrorismus" kriminalisierten, zu langen Haftstrafen oder zum Tode verurteilt.

Im Januar 2023 sprach das Sonderstrafgericht für terroristische Straftaten Salma al-Shehab, eine Doktorandin an der britischen Universität Leeds und Mutter zweier Kinder, erneut wegen terrorismusbezogener Straftaten schuldig und verhängte 27 Jahre Haft und ein anschließendes 27-jähriges Reiseverbot gegen sie. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof in Riad ein Urteil, das eine 34-jährige Haftstrafe vorsah, an die Berufungskammer des Sonderstrafgerichts zurückverwiesen. Das Urteil gegen Salma al-Shehab erging u. a. wegen "Störung der öffentlichen Ordnung und Destabilisierung der staatlichen Sicherheit und Stabilität" sowie wegen Unterstützung von Personen, die dies beabsichtigten. Grund für die Anklagen waren Twitter-Beiträge, in denen sie Frauenrechte in Saudi-Arabien unterstützt hatte.

Im Mai 2023 bestätigte der Oberste Gerichtshof die zehnjährige Haftstrafe, die das Sonderstrafgericht für terroristische Straftaten im August 2022 gegen Sabri Shalaby verhängt hatte. Der ägyptische Arzt war in einem grob unfairen Verfahren schuldig gesprochen worden, weil er die in Saudi-Arabien als terroristische Organisation eingestufte Muslimbruderschaft unterstützt und sich ihr angeschlossen haben soll. Während der ersten zehn Monate seiner Inhaftierung befand er sich in Einzelhaft, davon drei Monate ohne Kontakt zur Außenwelt. Seine wiederholten Anträge, wegen gesundheitlicher Probleme aufgrund einer früheren Rückenmarksoperation einen Neurologen konsultieren zu dürfen, wurden von der Gefängnisverwaltung durchweg abgelehnt. Er litt außerdem aufgrund anderer gesundheitlicher Probleme an Asthma und an grauem Star, wofür er keine angemessene Behandlung erhielt.

Der im Jahr 2018 begonnene Prozess gegen den Geistlichen Salman al-Awda vor dem Sonderstrafgericht für terroristische Straftaten ging weiter. Ihm wurden im Zusammenhang mit seinen Forderungen nach politischen Reformen und einem "Regimewechsel" in der arabischen Welt 37 Anklagepunkte zur Last gelegt, darunter Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft und in anderen Organisationen.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Menschenrechtsverteidiger*innen blieben weiterhin willkürlich inhaftiert, teilweise auch nach Verbüßung ihrer Haftstrafen, und unterlagen gerichtlich angeordneten Reiseverboten.

Dr. Mohammad al-Qahtani, ein Gründungsmitglied der inzwischen aufgelösten saudi-arabischen Menschenrechtsorganisation für bürgerliche und politische Rechte (ACPRA), blieb 2023 "verschwunden". Seine Haftstrafe war bereits im November 2022 abgelaufen.

Die bekannte Menschenrechtsverteidigerin Loujain al-Hathloul, die im Februar 2021 nach zweieinhalb Jahren Haft unter Auflagen freigelassen worden war, unterlag weiterhin einem Reiseverbot.

Todesstrafe

Gerichte verhängten und bestätigten im Jahr 2023 Todesurteile, auch gegen Personen, die zum Tatzeitpunkt noch minderjährig waren. Das gesamte Jahr über vollstreckten die Behörden Todesurteile, die für eine Vielzahl von Straftaten ergangen waren.

Am 12. März 2023 wurde der Jordanier Hussein Abo al-Kheir hingerichtet. Der Vater von acht Kindern war in einem grob unfairen Verfahren wegen Drogenschmuggels zum Tode verurteilt worden. Während der Untersuchungshaft war ihm der Kontakt zur Außenwelt und der Zugang zu einem Rechtsbeistand verweigert worden. Außerdem hatte man ihn gefoltert, um ein "Geständnis" zu erzwingen. Nach der Hinrichtung übergaben die Behörden seinen Leichnam nicht an seine Familie.

Im Mai 2023 bestätigte die staatliche Menschenrechtskommission in einem Schreiben an Amnesty International, dass "die Verhängung der Todesstrafe gegen Jugendliche bei Ta'zir-Verbrechen vollständig abgeschafft" worden sei. Ta'zir-Verbrechen sind Straftaten, für die nach islamischem Recht nicht zwingend die Todesstrafe verhängt werden muss. Entgegen dieser Zusicherung drohte mindestens sieben Personen, die zum Tatzeitpunkt unter 18 Jahre alt waren, die Hinrichtung, darunter Abdullah al-Derazi und Jalal Labbad. Der Oberste Gerichtshof bestätigte 2023 die Todesurteile gegen die beiden jungen Männer, ohne deren Familien oder Rechtsbeistände zu informieren.

Im Juli 2023 verurteilte das Sonderstrafgericht für terroristische Straftaten den 54-jährigen pensionierten Lehrer Mohammad bin Nasser al-Ghamdi [AR3] allein wegen seiner friedlichen Online-Aktivitäten auf X (vormals Twitter) und Youtube zum Tode. Er wurde auf Grundlage der Paragrafen 30, 34, 43 und 44 des Antiterrorgesetzes für schuldig befunden, u. a. wegen "mangelnder Treue gegenüber den Hütern des Staats", "Unterstützung einer terroristischen Ideologie und einer terroristischen Vereinigung" (der Muslimbruderschaft), "Missbrauch seiner Konten auf Twitter und Youtube, um Personen zu folgen und zu unterstützen, die die öffentliche Ordnung destabilisieren wollen" sowie "Sympathie mit Personen, die wegen terrorismusbezogener Vorwürfe inhaftiert sind". In der Anklageschrift wurden mehrere Tweets zitiert, aufgrund derer Mohammad bin Nasser al-Ghamdi verurteilt wurde, darunter Beiträge, in denen er den König und den Kronprinzen sowie die saudische Außenpolitik kritisierte, die Freilassung inhaftierter Geistlicher forderte und gegen Preiserhöhungen protestierte. Ihm wurde keine gewaltsame Straftat vorgeworfen.

Rechte von Migrant*innen

Die Behörden gingen 2023 weiterhin gegen Personen vor, denen sie Verstöße gegen Arbeits-, Aufenthalts- oder Grenzschutzbestimmungen zur Last legten. Unter anderem nahmen sie ausländische Staatsangehörige allein deshalb willkürlich fest und schoben sie ab, weil sie keinen regulären Aufenthaltsstatus hatten.

Nach Angaben des Innenministeriums wurden von Januar bis Dezember 2023 mindestens 468.000 der mehr als 777.000 ausländischen Staatsangehörigen, die wegen Verstößen gegen Arbeits-, Aufenthalts- oder Grenzschutzbestimmungen festgenommen worden waren, gegen ihren Willen in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Im selben Zeitraum inhaftierten die Behörden mehr als 40.000 ausländische Staatsangehörige, überwiegend aus Äthiopien und dem Jemen, die ohne die notwendigen Papiere aus dem Jemen nach Saudi-Arabien eingereist waren.

Zahlreiche nepalesische Arbeitsmigranten, die man für die Arbeit in Amazon-Lagerhäusern angeworben hatte, erlitten schwere Menschenrechtsverletzungen. Ihre Behandlung kam möglicherweise Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft gleich. Die Männer waren, bevor sie ihr Heimatland verlassen hatten, von den Anwerbeagenturen in Saudi-Arabien über ihren künftigen Arbeitgeber und die Arbeitsbedingungen getäuscht worden. In Saudi-Arabien enthielten Leiharbeitsfirmen ihnen ihre Löhne vor und brachten sie unter unzumutbaren Bedingungen unter. Einige Arbeitsmigranten wurden verbal oder körperlich misshandelt oder mit Misshandlung bedroht, insbesondere, wenn sie sich über ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen beschwerten. Wenn die Beschäftigung bei Amazon endete, vermittelten die Leiharbeitsfirmen den Männern häufig keinen anderen Arbeitsplatz und stellten die Zahlung des vertraglich vereinbarten Lohns ein, sobald sie "arbeitslos" waren. Die Leiharbeitsfirmen unterstützten die Arbeiter nur begrenzt oder gar nicht, vielmehr beschränkten sie deren Bewegungsfreiheit und Arbeitsmöglichkeiten, indem sie ihnen Dokumente vorenthielten, die notwendig waren, um eine neue Stelle antreten oder das Land verlassen zu können.

Angehörige des saudisch-arabischen Grenzschutzes töteten 2023 äthiopische Migrant*innen und Asylsuchende, die versuchten, aus dem Jemen nach Saudi-Arabien einzureisen. Human Rights Watch dokumentierte, dass der Grenzschutz u. a. Mörsergeschosse gegen die Menschen einsetzte und einige von ihnen aus nächster Nähe erschoss, darunter auch Minderjährige. Dem Bericht zufolge wurden von März 2022 bis Juni 2023 an der Grenze zum Jemen Hunderte, wenn nicht Tausende äthiopische Migrant*innen und Asylsuchende getötet.

Rechte von Frauen und Mädchen

Frauen wurden weiterhin durch Gesetze und im täglichen Leben diskriminiert, u. a. in Bezug auf Heirat, Scheidung, Erbschaftsangelegenheiten und Sorgerechtsfragen. Nach dem Personenstandsgesetz war der Vater standardmäßig der Vormund der Kinder. Während im Fall einer Trennung die Mutter automatisch das Sorgerecht erhielt, bestimmte man den Vater zum gesetzlichen Vormund des Kindes, ohne das Wohl des Kindes dabei angemessen zu berücksichtigen.

Im Februar 2023 hob ein Berufungsgericht in Saudi-Arabien ein früheres Urteil auf, mit dem der US-Bürgerin Carly Morris das Sorgerecht für ihre Tochter zugesprochen worden war. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stützte sich auf Paragraf 128 des Personenstandsgesetzes, dem zufolge eine Person das Sorgerecht verliert, wenn sie an einen anderen Wohnort zieht, wobei das Wohl des Kindes keine Berücksichtigung findet. Carly Morris war nach der Trennung von ihrem saudischen Mann in die USA gezogen, 2019 aber mit ihrer Tochter für einen Besuch nach Saudi-Arabien zurückgekehrt, woraufhin man sie dort für die Dauer des Sorgerechtsstreits bis Mitte 2023 festhielt. Carly Morris wurde über die Gerichtsverhandlungen, die in ihrer Abwesenheit stattfanden, nicht informiert, und ihr Ex-Mann untersagt ihr seit dem Urteil den Umgang mit ihrer Tochter, die sie in Saudi-Arabien zurücklassen musste.

Im Mai 2023 wurde die saudische Fitnesstrainerin Manahel al-Otaibi angeklagt, weil sie in den Sozialen Medien "das Königreich im In- und Ausland verleumdet und zur Rebellion gegen die öffentliche Ordnung sowie gegen gesellschaftliche Traditionen und Bräuche aufgerufen" habe. Außerdem habe sie "die Justiz und ihre Rechtsprechung herausgefordert". Sie hatte sich für eine liberale Kleiderordnung für Frauen eingesetzt und sich selbst in Kleidung gezeigt, die nach Ansicht der Behörden unanständig war. Außerdem hatte sie die Abschaffung der Gesetze zur männlichen Vormundschaft gefordert.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Saudi-Arabien, einer der bedeutendsten Erzeuger fossiler Brennstoffe, gehörte gemessen an der Bevölkerungszahl auch 2023 zu den zehn größten CO2-Emittenten weltweit.

Im Juli 2023 berichtete die Financial Times, dass Saudi-Arabien eine G20-Initiative blockiert hatte, die die Nutzung fossiler Brennstoffe reduzieren wollte.

Im Jahr 2023 produzierte das staatliche Unternehmen Saudi Aramco im Durchschnitt mehr als 12 Mio. Barrel Erdöl pro Tag. Geplant war, die Produktion bis 2027 um etwa 1 Mio. Barrel pro Tag zu erhöhen und die Erdgasproduktion bis 2030 um 50 Prozent zu steigern. Das von Aramco geförderte Öl und Gas ist laut Schätzungen seit 1965 für mehr als 4 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Einer Studie zufolge verursachte es im Jahr 2018 etwa 4,8 Prozent aller weltweiten Treibhausgasemissionen – und damit die höchsten aller Öl- und Gasunternehmen.

Veröffentlichungen von Amnesty International

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