Document #1197452
AI – Amnesty International (Author)
Sicherheitskräfte der von der Fatah dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) nahmen im Westjordanland willkürlich Anhänger der Hamas fest. Umgekehrt inhaftierte die De-facto-Verwaltung der Hamas im Gazastreifen Personen, die der Fatah nahestanden. In beiden Landesteilen kam es zu Folter und anderen Misshandlungen von Gefangenen. Die Verantwortlichen blieben faktisch straffrei. Sowohl die PA als auch die De-facto-Verwaltung im Gazastreifen schränkten die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit empfindlich ein. In Gaza ergingen mindestens elf Todesurteile, fünf Menschen wurden hingerichtet. Es waren die ersten Hinrichtungen seit 2005. Die humanitäre Krise der 1,5 Mio. Bewohner des Gazastreifens verschärfte sich, da Israel seine Militärblockade des Territoriums fortsetzte. Darüber hinaus blieben die von anderen Staaten gegen die De-facto-Verwaltung der Hamas verhängten Sanktionen auch im Jahr 2010 in Kraft.
Israel hielt weiterhin das Westjordanland, Ost-Jerusalem und den Gazastreifen besetzt. Doch gab es zwei verschiedene palästinensische Verwaltungen mit eingeschränkten Befugnissen: Während das Westjordanland von einer Übergangsregierung unter Salam Fayyad regiert wurde, stand der Gazastreifen de facto unter der Verwaltung der Hamas unter Isma'il Haniyeh, dem ehemaligen Ministerpräsidenten der PA. Es kam immer wieder zu Spannungen zwischen Fatah und Hamas.
Die Hamas und die ihr nahestehenden bewaffneten Gruppen hielten sich 2010 weitgehend an den informell mit Israel vereinbarten Waffenstillstand, der seit Januar 2009 in Kraft ist. Andere palästinensische Gruppierungen feuerten jedoch sporadisch Raketen und Mörsergranaten von Gaza nach Südisrael ab.
Die PA wurde von immer mehr Staaten als einziger Repräsentant der Palästinenser anerkannt und nahm im September auf Initiative der US-Regierung an neuen Verhandlungen über eine politische Einigung mit Israel teil. Die Gespräche scheiterten, als Israel sich weigerte, einen befristeten Baustopp israelischer Siedlungen im Westjordanland mit Ausnahme von Ost-Jerusalem zu verlängern. Die Hamas war von den Verhandlungen ausgeschlossen.
Israel behielt die Kontrolle über die Grenzen und den Luftraum des Gazastreifens und schränkte die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung im Westjordanland erheblich ein. Die andauernde israelische Militärblockade des Gazastreifens wirkte sich verheerend auf die Lebensbedingungen der Bewohner aus und verschärfte die humanitäre Krise. Etwa 80% der Bevölkerung des Gazastreifens waren auf Hilfslieferungen von internationalen Organisationen angewiesen. Der Personenverkehr zwischen Israel und dem Gazastreifen wurde von den Behörden strikt kontrolliert und eingeschränkt. Dies galt auch für schwerkranke Menschen, die spezielle medizinische Hilfe benötigten, die in den Kliniken des Gazastreifens nicht verfügbar war. Israel verhängte weiterhin ein Einfuhrverbot für viele Waren, versprach jedoch im Juni und im Dezember 2010 eine "Lockerung" dieser Maßnahme. Die Auswirkungen des Importstopps auf die gesicherte Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, das Gesundheitswesen und die Infrastruktur im Gazastreifen waren beträchtlich. Die Blockade kam einer Art Kollektivstrafe für die Bevölkerung gleich und stellte eine Verletzung des humanitären Völkerrechts dar. In den unterirdischen Tunneln, durch die Güter des täglichen Bedarfs von Ägypten in den Gazastreifen geschmuggelt werden, kamen infolge von Angriffen durch die israelische Luftwaffe, Einstürzen und anderen Unfällen etwa 46 Palästinenser ums Leben, 89 weitere wurden verletzt.
Mehrere lateinamerikanische Staaten erkannten Palästina offiziell als unabhängigen Staat auf der Basis der Grenzen von 1967 an.
Die De-facto-Verwaltung der Hamas leitete keine unabhängigen oder unparteilichen Untersuchungen der Vorwürfe von Kriegsverbrechen und möglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein, um das Vorgehen des militärischen Flügels der Hamas sowie von palästinensischen bewaffneten Gruppierungen während der Operation "Gegossenes Blei" (Cast Lead) zu klären. Diese 22 Tage andauernde Militäroffensive der israelischen Streitkräfte hatte am 18. Januar 2009 geendet. Im September 2009 hatte die UN-Untersuchungskommission in einem Bericht sowohl Israel als auch der PA empfohlen, innerhalb von sechs Monaten die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen während des Konflikts strafrechtlich zu verfolgen und zur Rechenschaft zu ziehen. Die De-facto-Verwaltung der Hamas legte den UN im Februar 2010 einen Bericht vor, in dem bestritten wurde, dass palästinensische bewaffnete Gruppierungen auf Zivilpersonen geschossen hätten. Ein von der Hamas berufener Ausschuss veröffentlichte im Juli seinen Bericht. Demnach lägen keine "glaubwürdigen Aussagen" vor, die es rechtfertigten, Einzelpersonen wegen vorsätzlicher Gefährdung von israelischen Zivilpersonen zu belangen.
Die Hamas erlaubte dem im Juni 2006 gefangen genommenen israelischen Soldaten Gilad Shalit weiterhin keinen Zugang zum Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und untersagte Familienbesuche.
Sicherheitskräfte der PA im Westjordanland inhaftierten willkürlich mutmaßliche Anhänger von Hamas. Umgekehrt verhafteten Sicherheitskräfte der Hamas im Gazastreifen Personen mit mutmaßlichen Verbindungen zur Fatah. In beiden Gebieten räumten die Behörden den Sicherheitskräften weitreichende Befugnisse ein. Verdächtige konnten in rechtswidriger Weise willkürlich festgenommen und inhaftiert werden. Folter und andere Misshandlungen blieben straflos. Die Unabhängige Kommission für Menschenrechte (Independent Commission for Human Rights - ICHR) erhielt Berichten zufolge mehr als 1400 Beschwerden wegen willkürlicher Festnahmen im Westjordanland und mehr als 300 im Gazastreifen.
Sicherheitskräfte und Polizeibeamte folterten und misshandelten Berichten zufolge Gefangene. Dazu zählten sowohl Angehörige der Sicherheitskräfte der PA und der Geheimdienste im Westjordanland als auch Angehörige der internen Sicherheitsbehörde im Gazastreifen. Neue Einzelheiten über Fälle aus dem Jahr 2009 kamen ans Licht. Bei der ICHR gingen mehr als 150 Beschwerden wegen Folter und anderer Misshandlungen durch die PA im Westjordanland ein sowie mehr als 200 Klagen wegen Übergriffen der Hamas im Gazastreifen. Die Verantwortlichen für Folter und andere Misshandlungen mussten in beiden Gebieten meist nicht mit Bestrafung rechnen. In einem der seltenen Strafverfahren wurden im Jahr 2010 fünf Angehörige des Geheimdienstes der PA vor Gericht gestellt. Ihnen wurde zur Last gelegt, am Tod im Gewahrsam von Haitham Amr im Juni 2009 beteiligt gewesen zu sein. Ein Militärgericht sprach die Angeklagten jedoch frei.
Im Westjordanland hielten sich die Sicherheitsbehörden weiterhin nicht an zahlreiche Gerichtsbeschlüsse zur Freilassung von Gefangenen. Die PA untersagte ehemaligen Mitarbeitern der Justizbehörden und der Sicherheitskräfte weiterhin, für die De-facto-Verwaltung der Hamas im Gazastreifen zu arbeiten. Die Hamas beschäftigte im Gazastreifen auch im Jahr 2010 Ersatz-Staatsanwälte und Richter, die häufig keine entsprechende Ausbildung und Qualifikation für diese Aufgaben hatten und an deren Unabhängigkeit Zweifel bestanden.
Militär- und Strafgerichte im Gazastreifen verurteilten 2010 mindestens elf Menschen zum Tode. Es wurden fünf Männer nach Gerichtsverfahren hingerichtet, die nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entsprachen: Im April wurden zwei Männer hingerichtet, die man der "Zusammenarbeit" mit Israel für schuldig befunden hatte. Im Mai wurden drei Männer wegen Mordes hingerichtet.
Sowohl die PA im Westjordanland als auch die De-facto-Verwaltung der Hamas im Gazastreifen schränkten 2010 das Recht auf freie Berichterstattung stark ein. Journalisten, Blogger und andere Regierungskritiker wurden schikaniert und strafrechtlich verfolgt.
Bewaffnete palästinensische Gruppen mit Verbindungen zur Fatah, Islamic Jihad und der Volksfront zur Befreiung Palästinas (Popular Front for the Liberation of Palestine - PFLP) feuerten willkürlich Raketen und Mörsergranaten auf Südisrael ab. Bei den Angriffen kam am 18. März 2010 ein Zivilist ums Leben. Es handelte sich um einen Arbeitsmigranten aus Thailand. Die Übergriffe waren für viele Menschen lebensbedrohlich. Im Vergleich zu den Vorjahren ging die Zahl der abgefeuerten Raketen erheblich zurück. Die israelische Armee startete ihrerseits Angriffe auf die mutmaßlichen Verantwortlichen.
Im Mai und Juni setzten unbekannte bewaffnete palästinensische Männer eine Einrichtung in Gaza in Brand, die von der United Nations Relief and Works Agency for Palestinian Refugees in the Near East (UNRWA) im Rahmen von Sommercamps für Kinder genutzt wurde.
Am 31. August 2010 kamen vier israelische Staatsbürger, darunter eine schwangere Frau, in der Nähe der israelischen Siedlung Kiryat Arba im Westjordanland ums Leben. Zu dieser Zeit begannen gerade die von den USA initiierten Verhandlungen zwischen der PA und Israel. Am darauffolgenden Tag erlitten zwei Israelis in der Nähe der Siedlung Kochav Hashachar Schussverletzungen. Die Izz al-Din al-Qassam-Brigaden, der militärische Arm der Hamas, übernahmen für beide Anschläge die Verantwortung.
Delegierte von Amnesty International statteten dem Westjordanland im April und Mai Besuche ab.
Palestinian Authority: Hamas fails to mount credible investigations into Gaza conflict violations (MDE 21/001/2010)
Hamas must prevent further attacks on Israeli civilians (MDE 21/002/2010)
Israel/Occupied Palestinian Territories: Amnesty International's assessment of Israeli and Palestinian investigations into Gaza conflict (MDE 15/022/2010)
Israel/Occupied Palestinian Territories: Human Rights Council fails victims of Gaza conflict (MDE 15/023/2010)
© Amnesty International
Amnesty International Report 2011 - The State of the World's Human Rights (Periodical Report, English)