Document #1119031
AI – Amnesty International (Author)
Amtliche Bezeichnung: Russische Föderation
Staatsoberhaupt: Wladimir Putin
(löste im Mai Dmitri Medwedew im Amt ab)
Regierungschef: Dmitri Medwedew
(löste im Mai Wladimir Putin im Amt ab)
Die Staatsorgane reagierten mit repressiven Maßnahmen auf die Zunahme der gewaltfreien politischen Proteste im Land. Neue Gesetze schränkten die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit ein. Menschenrechtsverteidiger, Journalisten und Rechtsanwälte waren weiterhin Schikanen ausgesetzt, gleichzeitig wurden gewaltsame Angriffe auf sie nicht gründlich untersucht. Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor weit verbreitet, gegen die Verantwortlichen wurden jedoch nur selten wirksame Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet. Gerichtsprozesse entsprachen nicht den internationalen Standards für faire Verfahren, und die Zahl offensichtlich politisch motivierter Urteile nahm zu. Die Sicherheitslage im Nordkaukasus war weiterhin instabil, und die Operationen der Sicherheitskräfte waren durch systematische Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet. Doch wurden die Täter fast nie zur Rechenschaft gezogen.
Wladimir Putin übernahm nach heftig kritisierten Wahlen wieder das Amt des Staatspräsidenten. Dies führte vor allem in den Tagen rund um seine Amtseinführung am 7. Mai 2012 zu einer Welle öffentlicher Proteste, bei denen Demonstrierende mehr bürgerliche und politische Freiheiten forderten. Als Reaktion auf die Proteste wurden weitere Einschränkungen verfügt. Kundgebungen wurden häufig verboten oder aufgelöst. Ungeachtet weit verbreiteter Kritik und zumeist in großer Eile wurden mehrere Gesetze verabschiedet, die es erlauben, mit härteren Sanktionen für Ordnungswidrigkeiten und strafrechtliche Verstöße gegen legitime Proteste, politische und zivilgesellschaftliche Aktivitäten sowie deren finanzielle Förderung aus dem Ausland vorzugehen.
Russland reagierte aggressiv auf internationale Kritik an der Menschenrechtssituation im Land. In den USA wurde ein Gesetz verabschiedet, das es u.a. ermöglicht, russische Amtsträger, die für den Tod des Rechtsanwalts Sergej Magnitzki in einem Moskauer Gefängnis im November 2009 verantwortlich sind, mit einem Einreiseverbot und anderen Sanktionen zu belegen. In mehreren anderen Ländern wurde ein solches Gesetz vorgeschlagen. Als Antwort darauf verhängten die russischen Behörden ebenfalls Sanktionen. Außerdem verboten sie US-amerikanischen Bürgern die Adoption russischer Kinder. Russischen NGOs ist es unter vagen Voraussetzungen untersagt, finanzielle Unterstützung aus den USA anzunehmen.
Russland verzeichnete 2012 weiterhin ein wirtschaftliches Wachstum, das allerdings durch sinkende Erdölpreise, die weltweite Konjunkturabschwächung und fehlende Strukturreformen gebremst wurde. Gegen Jahresende gab es weniger öffentliche Proteste, Meinungsumfragen zufolge nahm jedoch auch die Zustimmung der Bevölkerung zur politischen Führung ab.
In ganz Russland löste die Polizei friedliche Proteste immer wieder auf, häufig unter Anwendung exzessiver Gewalt. Dies galt selbst für Kundgebungen, an denen nur wenige Personen beteiligt waren und bei denen von einer Störung der öffentlichen Ordnung oder Bedrohung der öffentlichen Sicherheit keine Rede sein konnte. Die Behörden tendierten dazu, jede Art von Kundgebung, wie friedlich und unbedeutend sie auch sein mochte, als rechtswidrig zu betrachten, wenn sie nicht ausdrücklich genehmigt war. Versammlungen von Anhängern der Regierung oder der orthodoxen Kirche konnten hingegen häufig auch ohne Genehmigung stattfinden. Zahlreiche Berichte schilderten ein brutales Vorgehen der Polizei gegen friedliche Protestierende und Journalisten, doch wurden keine wirksamen Ermittlungen durchgeführt.
Im Juni 2012 wurde das Gesetz über öffentliche Veranstaltungen geändert und die Liste möglicher Verstöße erweitert. Außerdem wurden neue Beschränkungen eingeführt und die Strafen erhöht.
Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde 2012 zunehmend eingeschränkt. Viele Medien und vor allem das Fernsehen standen faktisch unter staatlicher Kontrolle. Die beste Sendezeit wurde landesweit regelmäßig dazu genutzt, Regierungskritiker herabzusetzen.
Der Tatbestand der Verleumdung wurde acht Monate nach seiner Streichung aus dem Strafgesetzbuch wieder eingeführt. Außerdem wurden die Definitionen der Tatbestände Hochverrat und Spionage im Strafgesetzbuch ausgeweitet und vager gefasst. So zählt dazu jetzt auch, an fremde Staaten sowie ausländische und internationale Organisationen, deren Aktivitäten "gegen die Sicherheit Russlands gerichtet sind", Informationen weiterzuleiten oder sie in sonstiger Weise zu unterstützen.
Neue Gesetze gaben der Regierung die Befugnis, Websites zu sperren und auf eine schwarze Liste zu setzen, deren Inhalte ihrer Ansicht nach "extremistisch" waren oder eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit, Moral oder Sicherheit darstellten. Ende 2012 waren auf Grundlage der neuen Bestimmungen bereits mehrere Websites gesperrt worden, die Inhalte publiziert hatten, die durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt waren.
Diskriminierung aufgrund von Abstammung, ethnischer Herkunft, Geschlecht, religiöser Überzeugung oder politischer Anschauung war nach wie vor weit verbreitet. In mehreren Regionen wurden 2012 Gesetze eingeführt, die Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender diskriminieren. Ein entsprechender Gesetzentwurf lag auch auf nationaler Ebene vor. Im April trat in St. Petersburg ein Gesetz in Kraft, das "Propaganda für Homosexualität, Bisexualität und Transsexualität vor Minderjährigen" verbietet. Eine ähnliche Gesetzgebung wurde in den Regionen Baschkirien, Tschukotka, Krasnodar, Magadan, Nowosibirsk und Samara eingeführt und in die Duma in Moskau eingebracht. Eine Reihe öffentlicher Veranstaltungen von Schwulen, Lesben, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen wurde verboten oder von der Polizei aufgelöst.
In ganz Russland wurden Angehörige sexueller und anderer Minderheiten weiterhin Opfer tätlicher Angriffe. Die Vorfälle wurden von den Behörden nicht gründlich untersucht, und die Täter blieben oft im Dunkeln.
Auch 2012 gab es Berichte über die Schikanierung von Menschenrechtsverteidigern im Nordkaukasus und in anderen Regionen. Engagierte Bürger, Journalisten und Rechtsanwälte, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen vertraten, mussten mit tätlichen Angriffen u.a. durch Polizeibeamte rechnen.
Bei den Ermittlungen zu früheren Angriffen wie der Ermordung von Natalja Estemirowa wurden keine erkennbaren Fortschritte erzielt.
Neue Gesetze errichteten zusätzliche bürokratische Hürden für NGOs und erlegten ihnen weitere Verpflichtungen auf: Diejenigen, die Geld aus dem Ausland erhalten und gemäß einer weit gefassten Definition "politischen Aktivitäten" nachgehen, müssen sich nunmehr als "Organisationen, die Funktionen ausländischer Agenten ausüben" registrieren lassen. Die Formulierung deutet nach russischem Sprachgebrauch auf Spionagetätigkeit hin. Erfüllen die Organisationen die neuen Anforderungen nicht, drohen ihren führenden Vertretern hohe Geldbußen und Haftstrafen.
Staatliche Funktionäre versuchten immer wieder, einzelne Menschenrechtsverteidiger, bestimmte NGOs und generell die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen in Misskredit zu bringen.
Es gab 2012 weiterhin zahlreiche Berichte über Folter und andere Misshandlungen; wirksame Untersuchungen der Vorwürfe waren jedoch selten. Dem Vernehmen nach umgingen die Ordnungskräfte die bestehenden Vorkehrungen zum Schutz vor Folter häufig mit diversen Mitteln. Dazu zählten der Einsatz von Gewalt unter dem Vorwand, die Häftlinge müssten ruhig gestellt werden, und die Nutzung geheimer Hafteinrichtungen, insbesondere im Nordkaukasus. Außerdem verweigerte man den Häftlingen oft den Zugang zu Rechtsbeiständen ihrer Wahl und ernannte stattdessen Pflichtverteidiger, bei denen man davon ausgehen konnte, dass sie Spuren von Folter ignorieren würden.
Im März berichteten die Medien ausführlich über einen Fall von Folter in Kasan, nachdem ein 52-jähriger Mann im Krankenhaus an inneren Verletzungen gestorben war. Er hatte angegeben, man habe ihn auf einer Polizeiwache mit einer Flasche vergewaltigt. Mehrere Polizisten wurden verhaftet und wegen Machtmissbrauchs angeklagt. Zwei Polizisten wurden später zu zwei bzw. zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Nachdem die Medien über den Fall berichtet hatten, wurden zahlreiche weitere Foltervorwürfe gegen die Polizei in Kasan und in anderen Städten erhoben. Der Leiter der Ermittlungsbehörde griff die Idee einer NGO auf und ließ spezielle Abteilungen einrichten, um Straftaten zu untersuchen, die von Ordnungskräften begangen wurden. Die Initiative wurde jedoch dadurch untergraben, dass diese Abteilungen nicht mit genügend Personal ausgestattet waren.
Eine Justizreform wurde allgemein als notwendig erachtet, selbst auf höherer Verwaltungsebene. Doch erfolgten keine wirksamen Schritte, um die Unabhängigkeit der Gerichte sicherzustellen. Es trafen zahlreiche Berichte über unfaire Verfahren aus dem ganzen Land ein. Viele Gerichtsentscheidungen, die z.B. extremistische Straftaten, Wirtschafts- und Drogendelikte betrafen, waren von politischen Erwägungen beeinflusst. Die Zahl der Urteile, die politisch motiviert schienen, wie das gegen die Mitglieder der Punk-Band Pussy Riot (siehe oben), nahm zu.
Häufig wurde der Vorwurf erhoben, Absprachen zwischen Richtern, Staatsanwälten, Ermittlungsbeamten und anderen Vertretern der Ordnungskräfte hätten zu unfairen Strafurteilen bzw. zu unangemessenen Sanktionen für Ordnungswidrigkeiten geführt.
Im ganzen Land klagten Rechtsanwälte über Verfahrensmängel, die das Recht ihrer Mandanten auf ein faires Verfahren beeinträchtigten. Die Anwälte beschwerten sich u.a. darüber, dass ihnen der Zugang zu ihren Mandanten verweigert wurde, dass mutmaßliche Straftäter in Gewahrsam genommen wurden, ohne umgehend ihre Rechtsbeistände und Angehörigen zu informieren, und dass staat- lich besoldete Pflichtverteidiger benannt wurden, die dafür bekannt sind, Verfahrensfehler und Misshandlungen nicht zu beanstanden.
Die Lage im Nordkaukasus war 2012 weiterhin äußerst instabil. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte führte nach wie vor häufig zu Menschenrechtsverletzungen.
Bewaffnete Gruppen überfielen erneut Angehörige der Sicherheitskräfte, örtliche Staatsbedienstete und Zivilpersonen. Bei zwei koordinierten Bombenanschlägen am 3. Mai 2012 in Machatschkala in Dagestan starben 13 Personen, darunter acht Polizisten. Mehr als 80 Mitarbeiter der Rettungsdienste wurden bei den Anschlägen verletzt. Am 28. August tötete eine Selbstmordattentäterin in Dagestan den einflussreichen muslimischen Geistlichen Scheich Said Afandi und fünf Personen, die ihn besucht hatten. Weitere Angriffe bewaffneter Gruppen wurden aus dem gesamten Nordkaukasus gemeldet.
In einigen Republiken bemühte man sich, der Bedrohung durch bewaffnete Gruppen mit deeskalierenden Strategien zu begegnen. In Dagestan und in Inguschetien wurden Kommissionen zur Wiedereingliederung ins Leben gerufen. Sie sollen dazu beitragen, dass bewaffnete Kämpfer aufgeben und sich wieder in die Gesellschaft integrieren. Die dagestanischen Behörden nahmen eine tolerantere Haltung gegenüber salafistischen Muslimen ein.
Im gesamten Nordkaukasus gab es 2012 jedoch weiterhin regelmäßig Sicherheitseinsätze der Polizeikräfte. Dabei kam es Berichten zufolge häufig zu Menschenrechtsverletzungen wie Verschwindenlassen, rechtswidriger Inhaftierung, Folter und anderen Misshandlungen sowie außergerichtlichen Hinrichtungen.
Die Behörden verstießen systematisch gegen ihre Verpflichtung, bei Menschenrechtsverletzungen durch Polizeikräfte umgehend unparteiische und wirksame Ermittlungen einzuleiten, die Verantwortlichen zu identifizieren und sie vor Gericht zu stellen. In einigen Fällen wurden zwar Strafverfolgungsmaßnahmen ergriffen, meistens konnte im Zuge der Ermittlungen jedoch entweder kein Täter identifiziert werden oder es fanden sich keine Beweise für die Beteiligung von Staatsbediensteten oder man kam zu dem Schluss, es habe sich um keinen Verstoß seitens der Polizeikräfte gehandelt. Nur in Ausnahmefällen wurden Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Polizeibeamte wegen Amtsmissbrauchs im Zusammenhang mit Folter- und Misshandlungsvorwürfen ergriffen. Kein einziger Fall von Verschwindenlassen oder außergerichtlicher Hinrichtung wurde aufgeklärt und kein mutmaßlicher Täter aus den Reihen der Ordnungskräfte vor Gericht gestellt.
Vertreter von Amnesty International besuchten Russland im Mai und im Juni.
© Amnesty International
Amnesty International Report 2013 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation (Periodical Report, English)