Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Ist die Republik Itschkeria noch in irgendeiner Form in Tschetschenien präsent bzw. repräsentiert? Lage von Personen, die sich zur Republik Itschkeria bekennen [a-9756-5 (9760)]

7. September 2016

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In den ACCORD derzeit zur Verfügung stehenden Quellen konnten im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche keine konkreten Informationen dazu gefunden werden, ob die Republik Itschkeria noch in irgendeiner Form in Tschetschenien präsent bzw. repräsentiert ist und welche Konsequenzen ein Bekenntnis zur Republik Itschkeria nach sich zieht. Im Folgenden finden Sie Aussagen von Achmed Sakajew, dem Leiter der Exilregierung der Republik Itschkeria, zu UnterstützerInnen Itschkerias und einer Opposition in Tschetschenien, allgemeine Informationen zur Lage bzw. Existenz von UnterstützerInnen der Unabhängigkeit Tschetscheniens in Tschetschenien sowie Informationen zu Personen, die andere politische Ansichten als Ramsan Kadyrow vertreten.

 

Die in Lettland ansässige russischsprachige Internetzeitung Medusa veröffentlicht im Dezember 2014 ein Interview mit Achmed Sakajew, dem in London ansässigen Leiter der Exilregierung der Republik Itschkeria. Auf die Frage, wie viele Personen in Tschetschenien gegen Ramsan Kadyrow sowie das Kaukasus-Emirat seien und Itschkeria unterstützen würden, antwortet Sakajew, dass sehr viele TschetschenInnen der Ansicht seien, dass die Religion und die Scharia die einzige Basis für die Zukunft seien, weil sie den Glauben an alles verloren hätten. Die Menschen in Tschetschenien seien mit diesem Monster allein, das sie vernichte, sowohl physisch als auch geistig. Die Frage sei nicht, ob die Menschen für Itschkeria oder das Kaukasus-Emirat seien, denn der Anteil derer, die gegen das seien, was heute in Tschetschenien ablaufe, liege bei 99,9 Prozent. Auf die Nachfrage, ob dieser Wert nicht zu hoch sei, antwortet Sakajew, dass nur die für das aktuelle Regime seien, die „gefüttert“ würden, die, denen Putin Milliarden zukommen lasse und gestatte zu tun, was sie wollten. Aber LehrerInnen und Ärzte, die Abgaben an den Kadyrow-Fonds leisten müssten, hätten überhaupt keine Rechte. Das sei für eine(n) Tschetschenen/in natürlich erniedrigend und beleidigend und belaste ihn/sie psychisch. So lange Putin im Kreml sei, werde die Situation in Tschetschenien weiterhin so bleiben. Die Frage, ob nach dem Abgang von Putin und Kadyrow in Tschetschenien ein Krieg zwischen WahhabitInnen und AnhängerInnen Itschkerias ausbrechen werde, verneint Sakajew und fügt an, dass eine weitere Revolution oder ein weiterer Krieg in Tschetschenien eine nationale Katastrophe wären:

- А какое количество людей в Чечне, выступающих против Кадырова, поддерживают Ичкерию, а не Имарат Кавказ?

- Людей, которые считают, что единственная платформа для будущего вообще — это религиозная база и шариат — очень много, потому что люди потеряли веру вообще во что-либо. Они оставлены один на один с этим монстром, который их уничтожает. И физически, и духовно. Есть очень четкие религиозные догмы, на которых можно двигаться дальше.

Cейчас вопрос не в том, за Ичкерию они или за Имарат Кавказ, ведь тех, кто против того, что сегодня происходит в Чечне, — 99,9%.

- Не слишком ли много?

- За сейчас только те, что кормятся, те, кому Путин выделяет миллиарды и говорит: Делайте все, что хотите. А учителя, врачи, которые должны платить дань [в фонд Кадырова], не имеют вообще права ни на что! Естественно, для чеченца это унизительно, оскорбительно и давит психологически. Сколько будет находиться Путин в Кремле, столько эта ситуация будет продолжаться в Чечне.

- Представим, что уходит Путин, уходит Кадыров. В Чечне начинается война между ваххабитами и сторонниками Ичкерии?

- Нет, нет. Чеченцы сейчас не должны допустить еще одну революцию или войну, это будет национальная катастрофа. Этого не будет, я вас уверяю. Если бы идеологи этой войны были уверены в обратном, то, я вас уверяю, российские войска из Чечни сразу бы ушли, чтобы мы там сами покончили друг с другом. Они ведь знают, что этого не произойдет, что это противостояние искусственно создано.“ (Medusa, 11. Dezember 2014)

Im Februar 2016 veröffentlicht der vom US-amerikanischen Kongress finanzierte Rundfunkveranstalter Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) ein Interview mit Achmed Sakajew. Darin antwortet dieser auf die Frage, ob es in Tschetschenien eine organisierte Opposition gegen Kadyrow gebe, er könne sich vorstellen, dass es irgendeine Organisation gebe, die unter der absoluten Ägide des Inlandsgeheimdienstes FSB sei. Diese Kräfte unter Kontrolle des FSB, seien, wenn es sie gebe, aber streng geheim, weil Ramsan Kadyrow im Prinzip jeden verfolge und diejenigen physisch vernichte, die in irgendeiner Weise eine Verbindung zu russischen Geheimdiensten hätten. Für Kadyrow sei es sehr wichtig, das sich alles, was mit Tschetschenien in Zusammenhang stehe, auf ihn konzentriere:

– Существует, на ваш взгляд, в Чечне какая-то организованная оппозиция Кадырову?

– Допускаю, что в Чечне есть какая-то организация, которая находится под абсолютным патронажем ФСБ [Федеральная служба безопасности], для того чтобы в случае чего начать выступление снизу. Да, я допускаю, что в Чечне есть какие-то подконтрольные ФСБ [Федеральная служба безопасности] силы, но они глубоко законспирированы, потому что Кадыров в принципе преследует любого человека, физически уничтожая тех, кто каким-то образом связан с российскими спецслужбами. Для него очень важно, чтобы все, что связано с Чечней, было сосредоточено именно на нем. В связи с этим он ведет безжалостную борьбу с агентурой, которая имеется в Чечне у ГРУ [Главное разведывательное управление] или ФСБ.“ (RFE/RL, 15. Februar 2016)

Die russische regierungskritische Zeitung Nowaja Gasjeta veröffentlicht im Juni 2015 ein Interview mit Jekaterian Sokirjanskaja, die für die International Crisis Group arbeitet, seit Jahren im Nordkaukasus forscht und lange auch dort gelebt hat. Darin merkt sie an, dass der ursprüngliche Grund des Konflikts zwischen Grosny und Moskau nach wie vor aktuell sei. Der tschetschenische Separatismus sei nicht tot. Er lebe in den Küchen, in der Emigration. Er schlafe:

- Подчеркну, что мы говорим о гипотетической ситуации нового витка конфликта Грозного с Москвой. И тут очень важно понимать, что первопричина конфликта — до сих пор актуальна. Чеченский сепаратизм не умер. Он живет на кухнях, он живет в эмиграции, он спит.“ (Nowaja Gasjeta, 1. Juni 2015)

Die Jamestown Foundation, eine unabhängige, unparteiische und gemeinnützige Organisation, die Informationen zu Terrorismus, den ehemaligen Sowjetrepubliken, Tschetschenien, China und Nordkorea zur Verfügung stellt, berichtet im März 2016, dass Ramsan Kadyrow sich wiederholt wegen der Aktionen von TschetschenInnen in Europa unzufrieden gezeigt habe. Während seiner ersten Amtsjahre habe er viele der früheren Anführer Itschkerias überzeugt, die Seiten zu wechseln und nach Grosny zurückzukehren. Das habe garantiert, dass sie nicht gegen ihn gearbeitet hätten. Diejenigen, die nicht nach Tschetschenien zurückgekehrt seien, hätten bald erfahren, dass Kadyrows Einflussbereich selbst bis nach Europa reiche. Kadyrow sei es sogar gelungen, in mehreren europäischen Ländern Vertretungen der Republik Tschetschenien zu eröffnen.

Es sei den tschetschenischen Behörden jedoch nicht gelungen, alle UnterstützerInnen der tschetschenischen Unabhängigkeit zurück nach Tschetschenien zu locken. Achmed Sakajew sei beispielsweise einer der aktivsten tschetschenischen Politiker in Europa, die für die tschetschenische Unabhängigkeit seien. Sakajews Aktivitäten hätten kurz vor Veröffentlichung des Artikels zu einem Anstieg der Spannungen zwischen Kadyrow und der tschetschenischen Diaspora in Europa geführt. Kadyrow habe zehn Jahre lang versucht, Sakajew zurück nach Tschetschenien zu locken. Im Februar 2016 habe er unerwartet Achmed Sakajews Brüder und Schwestern in Urus-Martan besucht. Das Ziel des Besuchs habe darin bestanden, zu zeigen, dass Mitglieder von Sakajews Familie in Tschetschenien leben würden und niemand sie verfolge. Sakajews Verwandte hätten selbst vor den Kameras über ihr Leben in Tschetschenien gesprochen und Sakajew eingeladen, zurückzukehren. Sakajew habe abgelehnt und den Fernsehauftritt seiner Verwandten als Propaganda bezeichnet. Er habe angegeben, die Regierung habe Druck auf seine Verwandten ausgeübt, damit sie seine politischen Ansichten verurteilen würden. Laut der Jamestown Foundation sei der Einfluss der tschetschenischen Politiker in Europa, die die Unabhängigkeit unterstützen würden, in Tschetschenien selbst zu vernachlässigen. Man reagiere in Tschetschenien aber ziemlich sensibel auf ihre Äußerungen, da sich die tschetschenischen Behörden nicht daran gewöhnen könnten, dass TschetschenInnen irgendwo etwas öffentlich gegen Ramsan Kadyrow sagen könnten. Der Strom der MigrantInnen aus Tschetschenien und Russland zeige, dass die Situation in der Republik weit von einem akzeptablen Zustand entfernt sei, und die Menschen würden die Republik weiter verlassen. Die Republik Tschetschenien sei das einzige Gebiet gewesen, das 2015 mehr Reisepässe ausgestellt habe als im Jahr zuvor. Die tschetschenischen Behörden hätten 18 Prozent mehr Pässe als 2014 ausgestellt, im restlichen Russland seien 50 bis 70 Prozent weniger Pässe ausgestellt worden.

Im Dezember 2015 habe es in vielen europäischen Städten unerwartete kleine Protestaktionen gegen Kadyrows Politik in Tschetschenien gegeben. Als Reaktion auf die Proteste habe Kadyrow angegeben, dass er den TschetschenInnen in Europa nicht erlauben werde, den Frieden in der Republik zu zerstören. Kadyrow habe behauptet, dass die TschetschenInnen in Europa versuchen würden, subversive Aktionen gegen ihr Heimatland auszuführen. Am 1. März 2016 habe Kadyrow ein Treffen mit der tschetschenischen Polizei abgehalten und seine Haltung gegenüber der tschetschenischen Diaspora in Europa etwas ausführlicher erklärt. Laut der Jamestown Foundation entstehe anscheinend eine neue Generation junger tschetschenischer AktivistInnen in Europa, die für die Unabhängigkeit seien, und offenbar seien sie trotz Druck von Kadyrows Regierung und seinen Handlangern in Europa dazu bereit, an öffentlichen Protesten teilzunehmen. Dies bedeute, dass die Idee von Itschkeria wiederbelebt worden sei und es neue Auseinandersetzungen zwischen Grosny und den Tschetschenen in Europa geben werde:

„Ramzan Kadyrov has repeatedly voiced discontent with the actions of Chechens who reside in Europe. During the first years of his rule in Chechnya, he managed to convince many of the former leaders of Ichkeria to switch sides and move back to Grozny. This guaranteed that they would not work against him in the future (Lenta.ru, August 15, 2008). Those who did not return to Chechnya soon learned that the republic’s pro-Moscow ruler could reach them even in Europe: Kadyrov’s own former commander, Umar Israilov, was assassinated in Vienna in 2008 (Novayagazeta.ru, June 3, 2011). Kadyrov even managed to open Chechen Republic representative offices to various European countries (Gazeta.ru, September 11, 2009).

However, the Chechen authorities did not succeed in enticing all the supporters of Chechen independence back to the republic. For example, Ahmed Zakaev, the former minister of culture in the government of Aslan Maskhadov, is one of the most active pro-independence Chechen politicians in Europe. Zakaev’s activities caused a recent rise in tensions between Kadyrov and the Chechen diaspora in Europe. Kadyrov has been trying to lure Zakaev back to Chechnya for the past ten years. Last month, Chechnya’s governor paid an unexpected visit to Ahmed Zakaev’s brothers and sisters in the Chechen town of Urus-Martan (Onkavkaz.com, February 6). The intention of the visit was to show that members of Zakaev’s family live in Chechnya and no one persecutes them. Zakaev’s relatives themselves spoke before cameras about their life in Chechnya and invited him back to the republic. Zakaev, however, rejected the offer and called the televised appeal of his relatives a piece of propaganda. Zakaev said the government had put pressure on his family to condemn his political views (Regnum, February 8). […]

The level of influence of the Chechen pro-independence politicians in Europe is negligible in Chechnya, yet Grozny is quite sensitive to what they say because the Chechen authorities cannot become accustomed to the fact that Chechens somewhere could say something publicly against Ramzan Kadyrov. The outflow of migrants from Chechnya and Russia to Europe shows that the situation in the republic is far from acceptable, and people continue to leave. The Chechen Republic was the only territory of the Russian Federation that issued more Russian foreign travel passports in 2015 than in the previous year: the Chechen authorities issued 18 percent more passports than in 2014, while the issuance of passports in the rest of the country fell by 50–70 percent (Rbc.ru, February 26). […]

Last December, Chechens in multiple European countries unexpectedly staged small-scale protests against Kadyrov’s policies in Chechnya. […]

In response to the protests in Europe, Kadyrov said he would not allow the European Chechens who fled Chechnya to disrupt peace in the republic. Kadyrov asserted that Chechens in Europe were trying to conduct subversive activities against their homeland (Rg.ru, March 1). On March 1, Kadyrov held a meeting with the Chechen police and explained his position regarding the Chechen diaspora in Europe more extensively. According to Kadyrov, ‘they fled in the first days of the war, and now, sitting in Vienna, Paris or London, are trying to please their masters, expressing some kind of threats against Chechnya, shouting at rallies with their miserable donkey voices something about Chechnya and its people. There will be no return to Ichkerian lawlessness. Chechnya has begun a new life in union with Russia. And we will not allow anyone, especially those buffoons, to interfere with this life’ (Grozny-inform.ru, March 1).

It appears that a new generation of young pro-independence Chechen activists is forming in Europe, and evidently they are prepared to engage in public protests despite pressure by Kadyrov’s government in Chechnya and his henchmen in Europe. This means that the idea of Ichkeria has been revived and there will be fresh standoffs between Grozny and the Chechens in Europe.“ (Jamestown Foundation, 4. März 2016)

Das Central Asia-Caucasus Institute (CACI), das zusammen mit dem Silk Road Studies Program eine Denkfabrik mit Büros in Washington und Stockholm bildet, berichtet im März 2016 ebenfalls über die Proteste von TschetschenInnen in Europa. Kadyrow sei zunehmend in die Kritik geraten wegen der Praxis, seine KritikerInnen öffentlich zu erniedrigen oder gegen deren Familien vorzugehen, wenn er der KritikerInnen selbst nicht habhaft werden könne. Ende 2015 und Anfang 2016 hätten Mitglieder der in Europa lebenden tschetschenischen Diaspora eine Reihe von Demonstrationen in Wien, Stockholm und Berlin gegen die willkürlichen Praktiken des Kadyrow-Regimes organisiert. Diese Proteste und Kadyrows darauf folgende Ankündigung, die in Tschetschenien lebenden Verwandten der DemonstrantInnen für die gegen Tschetschenien gerichtete Diffamierungskampagne zur Verantwortung zu ziehen, hätten die Aufmerksamkeit auf die Praxis der kollektiven Bestrafung gelenkt, die die soziale und politische Landschaft Tschetscheniens seit Anfang der 2000-er Jahre präge.

Kadyrow sei wegen der ersten Demonstration in Wien im Dezember 2015 aufgebracht gewesen und habe öffentlich geschworen, die Verwandten der DemonstrantInnen ausfindig zu machen und habe auf den tschetschenischen Brauch hingewiesen, dem zufolge ein Bruder für seinen Bruder die Verantwortung trage. Laut eigenen Angaben im Fernsehen habe Kadyrow die Anweisung erteilt, herauszufinden, ob die DemonstrantInnen Brüder und Väter hätten, zu welchem Clan sie gehören würden, wo sie geboren seien und wer sie seien. Kadyrow habe auch geschworen, jede verfügbare Ressource zu nutzen, um sicherzustellen, dass die in Tschetschenien lebenden Verwandten die Sache mit ihren aufmüpfigen Familienmitgliedern im Ausland „in Ordnung bringen würden“ („sorted things out“). Sollten sie in dieser Hinsicht keine Entscheidung treffen, werde man dies von ihnen verlangen:

„Chechnya’s strongman Ramzan Kadyrov has recently come under increasing fire for publicly humiliating his critics and – particularly when unable to reach out to his detractors in person – for retaliating against their families. In late 2015 and early 2016, members of the Europe-based Chechen diaspora communities organized a series of demonstrations attended by hundreds of Chechens protested in Vienna, Stockholm and Berlin against the indiscriminate practices carried out by the Kadyrov regime in their home country. These protests and Kadyrov’s consequent promise to hold protestors’ relatives living in Chechnya accountable for the supposedly anti-Chechen defamation campaign have drawn attention to the practice of collective punishment that has shaped Chechnya’s social and political landscape since the early 2000s.

BACKGROUND: Outraged by the first demonstration in Vienna in December, Kadyrov publicly pledged to track down the relatives of the protestors, pointing to what he called a Chechen custom stipulating that ‘a brother answers for his brother.’ In a speech broadcast by Chechen TV, Kadyrov explicitly asserted that he ‘gave instructions to find out whether they have brothers and fathers, which clan they belong to, where they were born, and who they are.’ Kadyrov also pledged to use ‘every available resource’ to make sure that the Chechnya-based relatives ‘sorted things out’ with their defiant family members abroad: ‘If they don't make any decisions, we will demand that they do.’“ (CACI, 9. März 2016)

Die international tätige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) veröffentlicht im April 2016 einen Artikel von Tanja Lokschina, der Leiterin des Russland-Programms von HRW. Darin erwähnt sie den Fall von Chussein Betelgerijew, einem bekannten tschetschenischen Sänger und Dichter, der von bewaffneten Männern in schwarzen Uniformen aus seinem Haus abgeführt worden sei. Nach mehr als einer Woche ohne Nachrichten von ihm sei er zu seiner Familie nach Hause zurückgekehrt. Viele hätten geglaubt, dass er tot sei, und es sei eine große Erleichterung, dass er am Leben sei, auch wenn man ihn schwer geschlagen habe. Sie, Lokschina, würde sich wünschen, sie könnte erzählen, was sie wisse, und Details liefern. Wenn sie dies täte, würden Betelgerijew und andere aber nur noch mehr leiden. Soweit sie wisse, habe es sich bei den Personen, die Betelgerijew gefangen genommen und gefoltert hätten, um Mitglieder der tschetschenischen Strafverfolgungsbehörden gehandelt. Er sei bestraft worden, weil er das rücksichtslose Oberhaupt Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, „nicht gelobt“ habe („for not praising“) und weil er sich in sozialen Netzwerken offen zu einer breiten Palette von Themen geäußert habe. Unter anderem habe er den Verlust der kurzen Unabhängigkeit Tschetscheniens beklagt. Sein freies Denken und die fehlende Unterwürfigkeit dürften auch zu seiner plötzlichen Entlassung 2015 an der Universität Grosny geführt haben, wo er jahrelang Französisch unterrichtet habe. Fast ein ganzes Jahrzehnt habe Kadyrow Tschetschenien wie ein Lehnsherr („running Chechnya like his own private fiefdom“) geführt und alle abweichenden Meinungen brutal ausgemerzt. In der Praxis seien Kadyrows Anweisungen die einzigen Gesetze in Tschetschenien, und diejenigen, die mit seiner Politik nicht einverstanden seien, seien mit fürchterlichen Konsequenzen konfrontiert, wenn sie mit der leisesten Kritik an die Öffentlichkeit gehen sollten. Da der tschetschenischen Führung Wahlen im September 2016 bevorstehen würden, würden die lokalen Behörden brutal und umfassend gegen Personen vorgehen, deren Loyalität in ihren Augen fragwürdig sei. Die beiden Publizisten Aslambek Didijew and Riswan Ibraghimow seien etwa zur selben Zeit wie Chussein Betelgerijew und unter ganz ähnlichen Umständen verschwunden. Ein paar Tage später seien sie im tschetschenischen Fernsehen aufgetaucht und hätten sich demütig für ihre „falschen“ („flawed“) Theorien und Publikationen entschuldigt. Ein paar Monate davor sei eine gewöhnliche Frau mittleren Alters, die es gewagt habe, sich über Erpressungen durch lokale Beamte zu beschweren, gezwungen worden, sich im Fernsehen bei Ramsan Kadyrow wegen ihrer „Lügen“ zu entschuldigen. Etwa zur selben Zeit sei ein Video eines jungen tschetschenischen Bloggers aufgetaucht, der ein paar kritische Bemerkungen über lokale und landesweite Behörden gemacht habe. In dem Video sei er halb nackt gewesen und habe um Vergebung gebeten. Diese und andere ähnliche Fälle würden ein klares Signal an die tschetschenische Gesellschaft senden. Man solle den Mund halten, außer, man wolle seine äußerste Ergebenheit zum Ausdruck bringen. Sei man dazu nicht bereit, müsse man darauf gefasst sein, öffentlich erniedrigt, verletzt oder geschlagen zu werden oder sogar ein Opfer von Verschwindenlassen zu werden:

„After a more than week of worrying whether a prominent Chechen poet and singer – taken from his home by two armed men in black uniforms – was dead or alive, we learned that he’s alive and finally back with his family in Grozny. Khusein Betelgeriev was at home on March 31, 2016, when men came for him, without explanation. For the next 10 days, nothing was known of his fate and whereabouts. Many thought him dead. It’s a tremendous relief to finally confirm he’s among the living, though badly beaten. I wish I could tell you how I know, and tell you the details, but if I do, Betelgeriev and others will suffer even more.

That’s how it works in Chechnya today.

From what we know, Betelgeriev’s captors and torturers were Chechen law enforcement officials. He was punished for not praising the ruthless head of Chechnya, Ramzan Kadyrov, and for expressing himself freely on social media about a broad range of issues, including by mourning the loss of Chechnya’s short-lived independence. His free thinking and lack of servility also seem to have something to do with his sudden dismissal last year from Grozny University, where he had been teaching French for years.

For close to a decade, Ramzan Kadyrov has been running Chechnya like his own private fiefdom, brutally eradicating all forms of dissent. In practice, Kadyrov’s orders are the only law in Chechnya and those who disagree with his policies face terrible repercussions if they dare go public with even the slightest criticism. With elections for Chechnya’s leadership scheduled for September, local authorities have been on a rampage, viciously and comprehensively cracking down on those whose loyalty they deem questionable.

Two Chechen social commentators, Aslambek Didiev and Rizvan Ibraghimov, disappeared around the same time as Betelgeriev, under very similar circumstances. They appeared on Chechen television several days later humbly apologizing for their ‘flawed’ theories and publications. Several months earlier, an ordinary middle-aged woman who dared complain about extortion by local officials was forced to apologize to Ramzan Kadyrov on television for her supposed ‘lies.’ Around the same time, a video surfaced of a young Chechen blogger who had made some critical comments about local and federal authorities. In the video, he was half naked, begging forgiveness.

These and other similar cases send a clear signal to Chechen society: Keep your mouth shut except to exhibit your utmost devotion. If not, get ready to be publicly humiliated, hurt, beaten, and even ‘disappeared.’“ (HRW, 13. April 2016)

In einem Bericht vom August 2016 zum Vorgehen gegen RegierungskritikerInnen in Tschetschenien erläutert HRW zudem, dass die Behörden gegen KritikerInnen sowie gegen jeden vorgehen würden, dessen Loyalität Kadyrow gegenüber fraglich sei. Dazu würden unter anderem gewöhnliche BürgerInnen gehören, die abweichende Meinungen äußern würden. EinwohnerInnen Tschetscheniens, die ihre Unzufriedenheit zeigen würden oder offenbar nicht gewillt seien, die tschetschenische Führung und ihre Politik zu loben („applaud“), seien die vorrangigen Opfer des Vorgehens der Behörden. Die Behörden würden sie bestrafen, indem sie sie widerrechtlich festnehmen, sie grausamer und erniedrigender Behandlung sowie Todesdrohungen aussetzen und ihre Familienmitglieder bedrohen und physisch misshandeln würden. Selbst die leiseste Äußerung einer abweichenden Meinung bezüglich der Situation in Tschetschenien oder Kommentare, die der offiziellen Politik oder den offiziellen Paradigmen widersprechen würden, egal ob diese öffentlich oder in einer geschlossenen Gruppe in sozialen Netzwerken getätigt worden seien, könnten gnadenlose Vergeltungsmaßnahmen zur Folge haben:

„Kadyrov has been in this post since 2007 by virtue of appointment from the Kremlin, but he now faces elections for the head (governor) of Chechnya scheduled for September 2016. In the months before those elections local authorities have been viciously and comprehensively cracking down on critics and anyone whose total loyalty to Kadyrov they deem questionable. These include ordinary people who express dissenting opinions, critical Russian and foreign journalists, and the very few human rights defenders who challenge cases of abuse by Chechen law enforcement and security agencies. […]

Residents of Chechnya who show dissatisfaction with or seem reluctant to applaud the Chechen leadership and its policies are the primary victims of this crackdown. The authorities, whether acting directly or through apparent proxies, punish them by unlawfully detaining them - including through abductions and enforced disappearances- subjecting them to cruel and degrading treatment, death threats, and threatening and physically abusing their family members. These abuses also send an unequivocal message of intimidation to others that undermines the exercise of many civil and political rights, most notably freedom of expression. Even the mildest expressions of dissent about the situation in Chechnya or comments contradicting official policies or paradigms, whether expressed openly or in closed groups on social media, or through off-hand comments to a journalist or in a public place, can trigger ruthless reprisals.“ (HRW, August 2016, S. 2)

In dem Bericht von HRW wird auch der Fall von Chussein Betelgerijew noch einmal beschrieben. Unabhängige ExpertInnen und Personen, die ihm nahe stünden, hätten seine Entführung mit seinen pro-separatistischen Ansichten in Zusammenhang gebracht. Am Tage seines Verschwindenlassens habe er in einer geschlossenen Facebook-Gruppe Kommentare hinterlassen, mit denen er die separatistische Bewegung „gelobt“ habe („praising“). Anastasia Kirilenko, eine freiberufliche Journalistin, habe auf ihrem Facebook-Account eine Auswahl dieser Kommentare angeführt. Ihrer Aussage nach habe Betelgerijew am 31. März 2016 geschrieben, dass Itschkeria unsterblich sei, und am Abend desselben Tages sei er entführt worden. Jekaterina Sokirjanskaja von der International Crisis Group (ICG) habe Betelgerijews Verschwinden ebenfalls mit der Tatsache in Zusammenhang gebracht, dass er seine separatistischen Ansichten nicht verborgen, von Freiheit gesungen und von einem unabhängigen Tschetschenien geträumt habe. Betelgerijews Frau habe Caucasian Knot, einem unabhängigen Nachrichtenportal, gegenüber angegeben, dass sein Verschwinden mit seinen Facebook-Aktivitäten in Zusammenhang stehen könnten, die das Missfallen der tschetschenischen Behörden hätten erregen können. Ein Freund Betelgerijews habe HRW mitgeteilt, die lokalen Behörden seien frustriert gewesen wegen seiner „Unlust“ („reluctance“), an öffentlichen pro-Kadyrow-Aktivitäten teilzunehmen:

„Independent experts and people close to Betelgeriev tied his abduction to his pro-Chechen separatist views. On the day of his enforced disappearance, Betelgeriev had posted, in a closed Facebook discussion group called ‘History of the Chechen Republic,’ comments praising the Chechen separatist movement.

On April 3, Anastasia Kirilenko, a freelance journalist who follows Chechnya closely, posted to her Facebook page a selection of these comments. She wrote, ‘on the morning [of March 31] he had written about Ichkeria [independent Chechnya] being immortal and in the evening [of the same day], he was abducted.’ Ekaterina Sokirianskaia of the International Crisis Group also connected Betelgeriev’s disappearance to the fact that he did not hide his separatist views and ‘sang of freedom and dreamed of independent Chechnya.’ Betelgeriev’s spouse told Caucasian Knot, an independent media portal covering current developments in the Caucasus, that his disappearance could be related to his Facebook activity, which might have displeased the Chechen authorities. Furthermore, a friend of Betelgeriev told Human Rights Watch that local authorities were frustrated with his reluctance to take part in pro-Kadyrov public activities.“ (HRW, August 2016, S. 21-22)

Allgemeine Informationen zur Lage von Kadyrow-GegnerInnen in Tschetschenien entnehmen Sie bitte auch folgender ACCORD-Anfragebeantwortung vom April 2016:

 

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Tschetschenien: Lage von Kadyrow-GegnerInnen [a-9603-2 (9633)], 25. April 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/local_link/323498/463055_de.html

 

Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 7. September 2016)

·      ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: Tschetschenien: Lage von Kadyrow-GegnerInnen [a-9603-2 (9633)], 25. April 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/local_link/323498/463055_de.html

·      CACI - Central Asia-Caucasus Institute: Kadyrov represses dissent among European Chechens, 9. März 2016
http://www.cacianalyst.org/publications/analytical-articles/item/13339-kadyrov-represses-dissent-among-european-chechens.html

·      HRW - Human Rights Watch: Dispatches: The Price of Dissent in Chechnya, 13. April 2016
https://www.hrw.org/news/2016/04/13/dispatches-price-dissent-chechnya

·      HRW - Human Rights Watch: Like Walking a Minefield, August 2016
https://www.hrw.org/sites/default/files/report_pdf/chechnya0816_1.pdf

·      Jamestown Foundation: Kadyrov at Loggerheads With Chechen Diaspora in Europe; Eurasia Daily Monitor Volume: 13 Issue: 44, 4. März 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/local_link/320472/459735_de.html

·      Medusa: «После первой войны мы проиграли мир» [Nach dem Ersten Krieg haben wir den Frieden verloren], 11. Dezember 2014
https://meduza.io/feature/2014/12/11/posle-pervoy-voyny-my-proigrali-mir

·      Nowaja Gasjeta: «Чечня все больше отделяется от России» [Tschetschenien spaltet sich immer mehr von Russland ab], 1. Juni 2015
http://www.novayagazeta.ru/politics/69020.html

·      RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty: "Кадыров знает, что он – предатель" [Kadyrow weiß, dass er ein Verräter ist], 15. Februar 2016
http://www.svoboda.org/a/27552655.html