Anfragebeantwortung zu Somalia: Informationen zu Zwangsheirat (Zwangsheirat zur Konfliktlösung oder Entschädigung zwischen Clans) [a-9810]

19. August 2016

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Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem Länderbericht zur Menschenrechtslage vom April 2016 (Berichtszeitraum 2015), dass die provisorische somalische Verfassung kein rechtliches Mindestalter für eine Eheschließung vorsehe. Die Verfassung schreibe vor, dass eine rechtlich gültige Ehe das freie Einverständnis sowohl des Mannes als auch der Frau erfordere. Es sei oftmals zu Frühehen gekommen. 45 Prozent der Frauen zwischen 20 und 24 Jahren seien im Alter von 18 Jahren verheiratet gewesen. Acht Prozent der Frauen seien im Alter von 15 Jahren verheiratet gewesen. In ländlichen Gebieten hätten die Eltern ihre oftmals sogar erst zwölf Jahre alten Töchter gezwungen, zu heiraten. Es seien keine Maßnahmen der Regierung oder der regionalen Verwaltungen zur Verhinderung von Früh- oder Zwangsehen bekannt:

„Early and Forced Marriage: The provisional federal constitution does not specify a minimum legal age for marriage. It notes marriage requires the free consent of both the man and woman to be legal. Early marriages frequently occurred; 45 percent of women between the ages of 20 and 24 were married by age 18, and 8 percent were married by age 15. In rural areas parents often compelled daughters as young as 12 to marry. In areas under its control, al-Shabaab arranged compulsory marriages between its soldiers and young girls and used the lure of marriage as a recruitment tool. There were no known efforts by the government or regional authorities to prevent early and forced marriage.” (USDOS, 13. April 2016, Section 6)

Laut einem von dem Somalia-Experten Joakim Gundel gemeinsam mit Ahmed A. Omar Dharbaxo verfassten Bericht, der im November 2006 vom Danish Refugee Council (DRC) veröffentlicht wurde, würde eine Reihe von Praktiken des Xeer [somalisches Gewohnheitsrecht, Anm. ACCORD] menschenrechtlichen Standards und dem Schariarecht widersprechen. Ein Beispiel dafür sei die Praxis „dumaal“ bzw. die erzwungene „dumaal“, bei welcher eine Witwe gezwungen werde, einen männlichen Verwandten ihres verstorbenen Ehemannes zu heiraten. Dies erfolge jedoch freiwillig mit Zustimmung der Witwe, da die Familienbindung und die Verbundenheit der Kinder mit der Familie ihres verstorbenen Vaters von der Witwe als vorrangig angesehen würden. Eine erzwungene „dumaal“ sei mittlerweile nicht mehr weit verbreitet. Ein weiterer Brauch sei laut dem vom DRC veröffentlichten Bericht zudem „higsiisan“. Dies sei die Zwangsverheiratung der Schwester einer verstorbenen Ehefrau mit dem verwitweten Ehemann. Eine weitere Praxis, die weiterhin in einigen Teilen Somalias ausgeübt werde, sei „Godobtir“. Dies sei eine Zwangsverheiratung eines Mädchens mit einem geschädigten Clan als Teil einer Mag-Zahlung [Blutgeld, Anm. ACCORD] oder um ein Friedensabkommen mit einem anderen Clan sicherzustellen. Eine weitere Praxis bestehe im Zwingen einer vergewaltigten Frau, eine Ehe mit dem Täter einzugehen. Die Rechtfertigung dafür sei der Schutz der Ehre der Frau und des Clans und die Sicherstellung der vollständigen Zahlung ihrer „Yarad“ (Mitgift) durch den Clan des Angreifers an den Clan des Opfers, weil ansonsten der Wert der Frau „verloren“ sei. Da eine Eheschließung auch eine Bindung zwischen den Clans der beteiligten Personen verfestige, werde zudem weitere Gewalt verhindert. Zudem wird an anderer Stelle in dem Bericht erwähnt, dass eine Heirat für gewöhnlich mit einer Person außerhalb der primären Abstammungslinie („primary lineage“) erfolge, um die ansonsten endlos andauernden Fehden zwischen den primären Abstammungslinien zu verringern:

„A number of xeer practices are specifically in contrast with Human Rights standards as well as Sharia law. One example is the practice of dumaal, or rather the forced dumaal, where a widow is forced to marry a male relative of her deceased husband. This does however happen voluntarily, with the consent of the widow, because the bond of family and attachment of the children to her deceased husband’s family is seen by her as overridingly important. Forced dumaal is however not widely practiced any longer.

Another custom is forced higsiisan, which is the forced marriage of the sister of a deceased wife to the widowed husband. Godobtir, the forced marriage of a girl into an aggrieved clan as part of a mag payment, or to ensure a peace-deal with another clan is still practiced in some parts of Somalia.

A more serious rights violation is the practice of forcing a raped woman to marry her perpetrator. The justification for this is to protect the woman’s and the clan’s honour, and to ensure full payment of her yarad (dowry) by the attacker’s clan to the victim’s clan, because otherwise her value has been ‘lost’. As marriage also solidifies a bond between the clans of the man and woman involved, further violence is also prevented.” (DRC, November 2006, S. 50)

„Marriage is usually outside the primary lineage, and links them together, which functions to reduce the otherwise endless feuds between primary lineages (Lewis 1961: 5).” (DRC, November 2006, S. 6)

Das kanadische Immigration and Refugee Board (IRB) erwähnt in einer Anfragebeantwortung vom September 2007 unter anderem, unter Berufung auf einen Bericht des DRC aus dem Jahr 2004, dass eine Frau in Somalia gezwungen werden könnte, eine von ihrem Vater oder von einem männlichen Vormund („guardian“) arrangierte Ehe einzugehen. Eine zuvor nach dem Xeer getroffene Vereinbarung zwischen zwei Stämmen könne ebenso benutzt werden, um eine Verbindung voranzutreiben. In derartigen Fällen müsse sich die Familie der Frau einverstanden erklären, die Frau aufgrund eines Präzedenzfalles, bei dem ein männlicher Verwandter der Frau („girl“) in ähnlicher Weise in den Stamm des Verehrers habe einheiraten können, in die Ehe zu entlassen. Oft würde ein hoher Brautpreis bezahlt, um den Vater zu bestechen. „Arrangierte Ehen” könnten laut der IRB-Anfragebeantwortung in Somalia auch in der Form eines Austausches von Frauen zwischen kriegführenden Stämmen erfolgen. Dies werde im nördlichen Somalia als „godob reeb“ und im Süden als „godob tir“ bezeichnet. Diese Form der Ehe werde gewöhnlicher Weise ohne Zustimmung der Frau oder des Mannes arrangiert. Weigere sich ein Partner bzw. eine Partnerin, diese Art der arrangierten Ehe einzugehen, werde ein anderes Familienmitglied seinen oder ihren Platz einnehmen. Jedoch seien die in dieser Art von Ehen versprochenen Mädchen für gewöhnlich sehr jung und würden sich nur sehr schwer weigern, außer sie würden „durchbrennen“ oder es gebe innerhalb der Familie Widerstand gegen diese Ehe.

In der IRB-Anfragebeantwortung werden zudem einige bereits im DRC-Bericht von 2006 erwähnte Praktiken der „geerbten Ehe“ („inherited marriage“) wie „dumaal“ und „xigsiisan“ genannt:

„A 2004 report by the Danish Refugee Council (DRC) similarly indicates that a woman can be forced into a marriage arranged by her father or male guardian (21 Aug. 2004, 10). The father or guardian may justify the arrangement, believing that he is looking out for the woman's welfare (ibid.). A prior xeer [customary law (Denmark Mar. 2004; UN 10 May 2007)] agreement between two tribes may also be used to encourage a union (DRC 21 Aug. 2004, 10). In such cases, the woman's family must agree to give her in marriage to another tribe because of ‘a precedent case where the girl's male relative or kin was able to marry from her suitor's tribe in a similar manner’ (DRC 21 Aug. 2004, 10). Large bride prices are often used to bribe the father (ibid.).” (IRB, 20. September 2007)

„Arranged marriages in Somalia can also take place through the exchange of women between warring tribes, which is viewed as sealing a peace agreement (Gardner and El Bushra 2004, 147; Musse Ahmed 2004, 54; Ibrahim 2004, 167). Referred to as godob reeb in northern Somalia and godob tir in the south (Gardner and El Bushra 2004, 147), this type of marriage is usually arranged without the consent of the woman or the man (Musse Ahmed 2004, 54). According to the article on marriage traditions in Somalia, if either partner refuses to take part in this type of arranged marriage, then another family member will take his or her place; however, the article also notes that girls who are promised in these types of marriages are usually ‘very young and find it hard to refuse unless they elope or unless there is some resistance to the marriage within the family’ (ibid.). According to the 2004 DRC report, ‘inherited marriage’ is another form of marriage in Somalia in which a woman is unable to choose her husband (DRC 21 Aug. 2004, 10). Inherited marriage includes dumaal, the Somali tradition where a man is entitled to ‘inherit’ or marry the widow of his deceased brother or close relative (ibid., 11; UN Dec. 2002, 24). It also includes higsiisin [also referred to as xigsiisan], where a man is permitted to marry the sister of his deceased wife (ibid.; DRC 21 Aug. 2004, 11). Traditions of arranged and inherited marriages are said to be ‘particularly strong’ among nomadic pastoralist populations in Somalia (DRC 21 Aug. 2004, 10). The DRC report indicates that women who refuse to participate in these marriages ‘face strong pressure and sanction’ from their family and their in-laws and, in cases of dumaal, could also be denied certain rights, including child custody and the management of the deceased husband's property (ibid., 11).” (IRB, 20. September 2007)

Der unabhängige Experte zur Lage der Menschenrechte in Somalia schreibt in einem Bericht an den UNO-Menschenrechtsrat (HRC) vom September 2010, dass häusliche Gewalt gegen Frauen in allen Teilen Somalia weiterhin sein großes Problem sei. Weibliche Opfer sexueller oder genderbasierter Gewalt hätten kein funktionierendes Justizsystem zur Verfügung, an das sie sich wenden könnten. Vergewaltigung und andere Formen sexueller oder genderbasierter Gewalt würden von Clans als zivile Streitigkeiten behandelt und das Opfer sei nicht eingebunden. Die Lösung bestehe oftmals in der Zahlung von Blutgeld oder in der Zwangsheirat zwischen dem Opfer und dem Täter:

„Domestic violence victimizing women continues to be a major problem in all parts of Somalia. Women victims of sexual and gender-based violence have no functioning judicial system to which they can turn. Rape and other forms of sexual and gender-based violence are dealt with by clans as a civil dispute, not involving the victim, and are often solved by either the payment of blood money or a forced marriage between the victim and the perpetrator.“ (HRC, 16. September 2010)

[Textpassage entfernt]

Folgende Dokumente enthalten allgemeine Informationen zur Lage von (verheirateten) Frauen:

·      HRC - UN Human Rights Council (formerly UN Commission on Human Rights): Report of the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences, Rashida Manjoo; Addendum; Mission to Somalia [A/HRC/20/16/Add.3], 14. Mai 2012 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1930_1338998707_a-hrc-20-16-add3-en.pdf

·      HRW - Human Rights Watch: ‘Here, Rape is Normal’: A Five-Point Plan to Curtail Sexual Violence in Somalia, 13. Februar 2014 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1788_1392291005_somalia0214-forupload.pdf

·      UK Home Office: Country Information and Guidance; Somalia: Women fearing gender-based harm and violence, 2. August 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1930_1470303013_cig-somalia-women-fearing-gbv-v3-0-august-2016.pdf

·      USDOS - US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2015 - Somalia, 13. April 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/local_link/322448/448223_en.html

 

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Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 19. August 2016)

·      DRC – Danish Refugee Council: The predicament of the ‘Oday’; The role of traditional structures in security, rights, law and development in Somalia (Autoren: Joakim Gundel und Ahmed A. Omar Dharbaxo), November 2006
http://www.logcluster.org/sites/default/files/documents/Gundel_The%2520role%2520of%2520traditional%2520structures.pdf

·      HRC - UN Human Rights Council (formerly UN Commission on Human Rights): Report of the independent expert on the situation of human rights in Somalia, Shamsul Bari [A/HRC/15/48], 16. September 2010 (available at ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/470_1286811463_a-hrc-15-48-en.pdf

·      HRC - UN Human Rights Council (formerly UN Commission on Human Rights): Report of the Special Rapporteur on violence against women, its causes and consequences, Rashida Manjoo; Addendum; Mission to Somalia [A/HRC/20/16/Add.3], 14. Mai 2012 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1930_1338998707_a-hrc-20-16-add3-en.pdf

·      HRW - Human Rights Watch: ‘Here, Rape is Normal’: A Five-Point Plan to Curtail Sexual Violence in Somalia, 13. Februar 2014 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1788_1392291005_somalia0214-forupload.pdf

·      IRB - Immigration and Refugee Board of Canada: Prevalence of forced or arranged marriages in Somalia; consequences for a young woman who refuses to participate in a forced or arranged marriage [SOM102612.E], 20. September 2007
http://www.refworld.org/docid/47ce6d7a2b.html

·      UK Home Office: Country Information and Guidance; Somalia: Women fearing gender-based harm and violence, 2. August 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
http://www.ecoi.net/file_upload/1930_1470303013_cig-somalia-women-fearing-gbv-v3-0-august-2016.pdf

·      USDOS - US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2015 - Somalia, 13. April 2016 (verfügbar auf ecoi.net)
https://www.ecoi.net/local_link/322448/448223_en.html