Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Großbritannien und Nordirland 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland

STAATSOBERHAUPT

Charles III. (folgte im September 2022 Königin Elisabeth II. auf den Thron)

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF*IN

Rishi Sunak (löste im Oktober 2022 Liz Truss im Amt ab, die im September Boris Johnson im Amt gefolgt war)

Stand:
1/2023

Neue Gesetze und Gesetzentwürfe drohten den Schutz der Menschenrechte, wie z. B. die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Asylrecht, stark aufzuweichen und die wichtigste britische Menschenrechtsgesetzgebung zu ersetzen. Weitere Gesetzentwürfe sahen Straflosigkeit für schwere Menschenrechtsverletzungen in Nordirland vor. Der Zugang zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen war nach wie vor nicht landesweit gewährleistet.

Hintergrund

Im Juni 2022 brachte die Regierung einen Gesetzentwurf ein, der die wichtigste britische Menschenrechtsgesetzgebung (Human Rights Act) ersetzen soll. Der Bill of Rights genannte Entwurf wurde weithin kritisiert, weil er schlecht vorbereitet war und aus menschenrechtlicher Perspektive einen massiven Rückschritt darstellte, indem er u. a. die staatliche Verpflichtung zum Schutz der Menschenrechte aufweichte und den Friedensschluss in Nordirland (Karfreitagsabkommen) gefährdete.

Klimakrise

Im September 2022 legte die britische Regierung einen neuen nationalen Klimabeitrag (Nationally Determined Contribution – NDC) fest. Die Aktualisierung änderte jedoch nichts an dem im Jahr 2020 definierten Ziel, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 68 Prozent zu senken und eine Reduzierung auf Netto-Null erst für 2050 anzustreben. Die schottische Regierung nahm sich eine Emissionsreduktion um 75 Prozent bis 2030 und die Erreichung des Netto-Null-Ziels im Jahr 2045 vor.

Unternehmensverantwortung

Vor dem Hohen Gericht von Süd-Gauteng in Südafrika lief ein Verfahren gegen den britischen Bergbaukonzern Anglo American. Hintergrund war eine Sammelklage, die zahlreiche Frauen und Kinder aus Sambia 2020 eingereicht hatten, die infolge eines Bergbauprojekts des Konzerns im sambischen Distrikt Kabwe Gesundheitsschäden davongetragen hatten. Anglo American hatte dort fast das gesamte 20. Jahrhundert über eine Bleimine betrieben, mit der Folge, dass die Bevölkerung von Kabwe einer Bleibelastung ausgesetzt war, die zur höchsten weltweit zählte. Medizinische Untersuchungen von Kindern im Alter von bis zu fünf Jahren hatten ergeben, dass sie erschreckend hohe Bleiwerte im Blut aufwiesen (siehe Länderkapitel Sambia).

Arbeitnehmer*innenrechte

Das Recht von Arbeitnehmer*innen, sich von einer Gewerkschaft ihrer Wahl vertreten zu lassen, war 2022 nicht durchgehend gewährleistet. Ein Gewerkschaftsvertreter, der im Oktober 2021 entlassen worden war, weil er bessere Arbeitsbedingungen für die Reinigungskräfte der Büros des Konzerns Meta in London gefordert hatte, erzielte im September 2022 eine außergerichtliche Einigung mit der Zeitarbeitsfirma, für die er bei Meta tätig war. Er hatte wegen seiner ungerechtfertigten Entlassung Klage eingereicht.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Im April 2022 verabschiedete das Parlament gesetzliche Regelungen, mit denen versucht wurde, Großbritanniens völkerrechtliche Verpflichtungen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu umgehen. So wurde z. B. die Flüchtlingsdefinition der Konvention nicht voll anerkannt, und deren Aufforderung, die Staaten sollten sich die Verantwortung für die Aufnahme von Flüchtlingen teilen, wurde zurückgewiesen. Abgelehnt wurde auch das in der Konvention verankerte Verbot der Diskriminierung, der Zurückweisung (Refoulement) und der Bestrafung von Asylsuchenden, die ohne gültige Papiere eingereist sind.

Darüber hinaus schloss die Regierung 2022 ein Abkommen mit Ruanda, das vorsieht, Menschen, die in Großbritannien um Asyl nachsuchen, in das ostafrikanische Land auszufliegen, damit sie dort auf die Entscheidung über ihren Antrag warten. Im Juni 2022 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, die Ausweisungen müssten ausgesetzt werden, bis britische Gerichte eine endgültige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Vorhabens getroffen hätten. Ende 2022 waren diesbezüglich noch Rechtsmittel vor höheren Gerichten anhängig.

Das von der Regierung angekündigte Neuansiedlungsprogramm für afghanische Flüchtlinge wurde faktisch nicht umgesetzt. Die Visavergabe für ukrainische Flüchtlinge verzögerte sich monatelang aufgrund unzulänglicher Verfahren. Bis Mitte Dezember 2022 hatten schließlich etwa 152.000 Menschen aus der Ukraine ein Visum erhalten und waren in Großbritannien eingetroffen.

Die Regierung ging weiterhin mit aller Härte gegen Personen vor, die den Ärmelkanal in Booten überquerten, um in Großbritannien Asyl zu beantragen. Die Zahl der unbearbeiteten Asylanträge stieg weiter an, und Asylsuchende waren nach wie vor unter vollkommen unzulänglichen Bedingungen untergebracht. Dies führte u. a. dazu, dass im Oktober in einer Unterkunft in Kent Diphtherie ausbrach und dass mehr als 200 unbegleitete Minderjährige, die in Hotels untergebracht waren, spurlos verschwanden.

Die Einwanderungspolitik der Regierung trug weiterhin dazu bei, dass Migrant*innen häufig von Obdachlosigkeit, Armut und Ausbeutung betroffen waren, insbesondere diejenigen, die keinen regulären Aufenthaltsstatus hatten. Bei strafrechtlichen Verstößen ordneten die Behörden als zusätzliche Strafe Abschiebungen an. Dies betraf auch Personen, die seit vielen Jahren oder gar seit ihrer Geburt im Vereinigten Königreich lebten.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Das im April 2022 verabschiedete Polizeigesetz (Police, Crime, Sentencing and Courts Act) erteilte der Polizei und den Ministerien erweiterte Befugnisse, um das Recht auf Versammlungsfreiheit noch stärker beschneiden zu können. Die Neuregelung birgt die Gefahr der Unverhältnismäßigkeit, indem sie der Polizei z. B. erlaubt, Versammlungen, die als "laut" oder "störend" empfunden werden, einzuschränken.

Ein Gesetzentwurf über die öffentliche Ordnung (Public Order Bill), der Zusätze zum Polizeigesetz enthielt, war Ende 2022 noch nicht verabschiedet worden. Er sah vor, zahlreiche friedliche Protestaktivitäten zu verbieten, die polizeilichen Befugnisse bei Personenkontrollen auszuweiten und individuelle Protestverbote auszusprechen, die den Betreffenden ihr Recht auf Versammlungsfreiheit vorenthalten würden.

Exzessive Gewaltanwendung

Die Richtlinien zum angemessenen Einsatz von Elektroschockwaffen (Taser) durch die Polizei waren weiterhin unzureichend. Im Juni feuerten zwei Polizeikräfte mit einem Taser auf einen Schwarzen Mann, der auf einer Brücke im Londoner Stadtteil Chelsea einen psychischen Zusammenbruch hatte. Er stürzte daraufhin in die Themse und starb zwei Tage später. Aus Statistiken des Innenministeriums von 2019/20 geht hervor, dass Schwarze Menschen bis zu acht Mal häufiger mit einem Taser bedroht oder angegriffen werden als Weiße.

Im August 2022 gingen zwei Polizeiangehörige in einem Pflegeheim mit einem Taser, einem Schlagstock und Pfefferspray gegen einen 93-jährigen Mann vor, der Behinderungen hatte und an Demenz litt. Er starb drei Wochen später in einem Krankenhaus. Die Polizeikräfte wurden wegen schweren Fehlverhaltens abgemahnt. Ende 2022 liefen noch Ermittlungen gegen sie wegen Totschlags.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Das Vereinigte Königreich ratifizierte 2022 endlich das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention). Die Regierung meldete jedoch einen Vorbehalt gegen Artikel 59 an, der den Schutz von Frauen ohne eigenständigen Aufenthaltstitel regelt. Am 1. November 2022 trat das Übereinkommen in Großbritannien in Kraft.

Unverantwortliche Rüstungsexporte

Gemäß einer im Dezember 2021 vorgenommenen Änderung der Lizenzkriterien bei Rüstungsexporten waren Waffenlieferungen ins Ausland gestattet, wenn die Regierung der Ansicht war, dass die Vorteile der Lieferung schwerer wogen als das Risiko, dass die Waffen zu weiteren Konflikthandlungen und Instabilität beitragen könnten.

Im Jahr 2022 lief ein Gerichtsverfahren bezüglich der Rechtmäßigkeit von Rüstungsexporten nach Saudi-Arabien. Dabei ging es um die Frage, ob britische Waffen für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im Jemen verantwortlich waren.

Diskriminierung

Rassismus

2022 wurde eine Reihe von Skandalen publik, die auf institutionellen Rassismus und Frauenfeindlichkeit in der für den Großraum London zuständigen Polizeibehörde (Metropolitan Police) hindeuteten. Einige der Vorwürfe führten dazu, dass die Londoner Polizeichefin im Februar 2022 zurücktrat. Im März wurde bekannt, dass zwei Polizistinnen im Jahr 2020 ein Schwarzes Mädchen an ihrer Schule einer Leibesvisitation unterzogen hatten, bei der sich die 15-Jährige nackt ausziehen musste. Nachfolgende Untersuchungen ergaben, dass die Metropolitan Police innerhalb von zwei Jahren 650 Minderjährige auf diese Weise durchsucht hatte und dass 58 Prozent der Betroffenen Schwarze waren.

Das im April 2022 verabschiedete Polizeigesetz verfestigte das rassistische Vorgehen der Polizei noch weiter. So weitete es die polizeilichen Befugnisse bei Personenkontrollen aus und führte neue Maßnahmen zur Unterbindung des unbefugten Betretens von Grundstücken und des Campierens ein, die sich gegen Rom*nja und Traveller-Gemeinschaften richteten.

Im Februar 2022 wurde bekannt, dass die Zahl antisemitischer Hassreden und Übergriffe einen neuen Höchststand erreicht hatte. Die Londoner NGO Community Security Trust, die antisemitische Vorfälle im Vereinigten Königreich dokumentiert, registrierte für 2021 einen Anstieg um 34 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Staatsangehörigkeitsrecht

Das britische Staatsangehörigkeitsrecht wurde 2022 reformiert, was einigen Bevölkerungsgruppen, die zuvor rechtlich diskriminiert worden waren, den Zugang zur britischen Staatsangehörigkeit ermöglichte. Hierzu zählten zahlreiche Nachkommen früherer Bewohner*innen des Chagos-Archipels, eines britischen Überseegebiets im Indischen Ozean. Sie leben seit ihrer Zwangsumsiedlung vor allem in Großbritannien im Exil, hatten zuvor aber keinen Zugang zur britischen Staatsbürgerschaft.

Geschlechtsidentität

Im Dezember 2022 verabschiedete das schottische Parlament eine Reform, die den Prozess der offiziellen Anerkennung der gewünschten Geschlechtsidentität vereinfacht.

Willkürlicher Entzug der Staatsbürgerschaft

Die britische Regierung machte auch 2022 von ihrer Befugnis Gebrauch, britischen Bürger*innen die Staatsangehörigkeit abzuerkennen. Dies betraf vor allem Personen, die das Land verlassen hatten, um sich der bewaffneten Gruppe Islamischer Staat anzuschließen. Dazu zählten auch Menschen, die Großbritannien als Minderjährige und – laut britischen Medienberichten – mit Unterstützung des kanadischen Geheimdiensts verlassen hatten. Vor den höheren Gerichten waren weiterhin zahlreiche Berufungsverfahren gegen das Vorgehen der Regierung anhängig, u. a. gegen die Entscheidung, britische Staatsangehörige nicht aus Syrien zurückzuholen.

Das am 28. April 2022 verabschiedete Grenzschutzgesetz (Nationality and Borders Act) gab der Regierung die Befugnis, einer Person unter bestimmten Umständen die Staatsangehörigkeit zu entziehen, ohne sie darüber informieren zu müssen.

Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung

Die von der Regierung Nordirlands im November 2021 versprochene unabhängige öffentliche Untersuchung der von 1922 bis 1990 bestehenden Mutter-Kind-Heime, katholischen Heime für ledige Mütter (Magdalene Laundries) und Arbeitshäuser fand nicht statt. Viele Frauen und Mädchen, die ledig schwanger wurden, schickte man seinerzeit in diese Heime. Sie waren dort willkürlich inhaftiert, wurden misshandelt, mussten Zwangsarbeit leisten und wurden gezwungen, ihre Kinder zur Adoption freizugeben.

Sexuelle und reproduktive Rechte

Schwangerschaftsabbrüche waren in Nordirland zwar entkriminalisiert, doch hatten die Behörden immer noch keine umfassend handlungsfähigen und finanziell angemessen ausgestatteten Spezialdienste für Schwangerschaftsabbrüche eingerichtet. Angesichts der Untätigkeit des nordirischen Gesundheitsministeriums kündigte der britische Minister für Nordirland im Oktober 2022 an, er werde die Health Trusts, die in Nordirland für die Gesundheitsversorgung verantwortlich sind, direkt mit der Bereitstellung dieser Dienste beauftragen. Nordirland war die einzige Nation im Vereinigten Königreich, die im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit keine telemedizinischen Dienste anbot.

Personen, die in Schottland wohnten, mussten für nicht frühzeitige Schwangerschaftsabbrüche weiterhin nach England reisen, da Abbrüche in Schottland zwar bis zur 24. Woche erlaubt waren, von vielen Einrichtungen aber nach der 15. Woche nicht mehr vorgenommen wurden.

Im März 2022 wurde der Bericht einer unabhängigen Kommission veröffentlicht, die gynäkologische Dienste des Trägers Shrewsbury and Telford Hospital NHS Trust untersucht hatte, der Krankenhäuser in Shropshire, Telford and Wrekin und Nord-Powys unterhält. Die Untersuchung ergab, dass 201 Säuglinge und neun Mütter, die in einem Zeitraum von 20 Jahren während oder nach der Geburt gestorben waren, überlebt hätten oder zumindest eine Überlebenschance gehabt hätten, wenn sie besser versorgt worden wären. Daraufhin wurden polizeiliche Ermittlungen eingeleitet.

Straflosigkeit

Im Mai 2022 brachte die britische Regierung einen Gesetzentwurf zur Bewältigung des Konflikterbes in Nordirland (Northern Ireland Troubles [Legacy and Reconciliation] Bill) ein. Er sah u. a. vor, alle straf- und zivilrechtlichen sowie rechtsmedizinischen Verfahren, die sich auf den Konfliktzeitraum 1966 bis 1998 bezogen, einzustellen. Dies kam faktisch einer Amnestie für während des Konflikts begangene Menschenrechtsverletzungen gleich.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Auch 2022 drohten bewaffnete Gruppen in Nordirland Journalist*innen Gewalt an, insbesondere Medienschaffenden, die zu illegalen paramilitärischen oder kriminellen Aktivitäten recherchierten. Im Juni warnte die Polizei die Zeitung Sunday World, dass "kriminelle Elemente" die Bewegungen einer bei ihr beschäftigten Person überwachten, um einen gewaltsamen Angriff vorzubereiten, bei dem möglicherweise auch Schusswaffen zum Einsatz kämen.

Der Juraprofessor Colin Harvey, der sich an Debatten über die verfassungsrechtliche Zukunft Nordirlands beteiligte, war seit 2021 öffentlichen Kommentaren ausgesetzt, die darauf abzielten, ihn einzuschüchtern und seinen wissenschaftlichen Ruf zu untergraben.

Haftbedingungen

Im April 2022 brachte die schottische Kommission für psychische Gesundheit (Mental Welfare Commission for Scotland) ihre Sorge zum Ausdruck, dass Häftlinge in Schottland hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit nicht regelmäßig und ausreichend versorgt wurden. Die Kommission bemängelte u. a., dass Häftlinge mit psychischen Erkrankungen getrennt untergebracht waren und Inhaftierte mit akuten Symptomen zu spät in Spezialkliniken verlegt wurden.

Recht auf Wohnraum

In England waren nach wie vor Hunderttausende Menschen obdachlos. In vielen Fällen war dies auf bürokratische und rechtliche Hürden zurückzuführen, wie Maßnahmen zur Einwanderungskontrolle sowie Bedürftigkeits- und Ausschlusskriterien. So hatten z. B. Menschen, die sich nach Ansicht der Behörden vorsätzlich in die Obdachlosigkeit begeben hatten, keinen Anspruch auf Unterbringung.

Die Lage auf dem Wohnungsmarkt war extrem angespannt. Dies betraf sowohl Sozialwohnungen als auch privat vermietete Wohnungen. Im November 2022 ergab eine unabhängige gerichtliche Untersuchung, dass der Tod eines Kleinkinds im Jahr 2020 auf Schimmel in der Wohnung zurückzuführen war. Es wurden jedoch keine neuen gesetzlichen Regelungen eingeführt, um diese Missstände abzustellen.

Verknüpfte Dokumente