Amnesty International Report 2022/23; Zur weltweiten Lage der Menschenrechte; Marokko 2022

Berichtszeitraum: 1. Januar 2022 bis 31. Dezember 2022

AMTLICHE BEZEICHNUNG

Königreich Marokko

STAATSOBERHAUPT

König Mohamed VI.

STAATS- UND REGIERUNGSCHEF*IN

Aziz Akhannouch

Stand:
 1/2023

Die Behörden gingen weiterhin hart gegen Andersdenkende vor, lösten friedliche Proteste auf und schränkten die Arbeit mehrerer Organisationen ein, die sie als oppositionell einstuften. Sie verschärften insbesondere das Vorgehen gegen sahrauische Aktivist*innen. Schwangerschaftsabbrüche waren nach wie vor strafbar. Mindestens ein Mädchen starb an den Folgen eines unsicheren Schwangerschaftsabbruchs, der nach einer Vergewaltigung vorgenommen worden war. An der Grenze zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla starben mindestens 37 Menschen, weil die Sicherheitskräfte mit übermäßiger Gewalt gegen Personen vorgingen, die versuchten, die Grenze zu überwinden. Es mangelte weiterhin an einer umfassenden Gesetzgebung, um das Recht auf eine saubere und gesunde Umwelt zu schützen und zu fördern.

Hintergrund

Im März 2022 erklärte der spanische Ministerpräsident, er unterstütze den marokkanischen Plan für eine Autonomie der Westsahara. Daraufhin kündigte Algerien an, den Freundschaftsvertrag mit Spanien auszusetzen. Die Beziehungen zwischen Marokko und Algerien blieben 2022 angespannt, obwohl König Mohamed im Juli dazu aufrief, die diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen.

Im Oktober 2022 verlängerten die Vereinten Nationen das Mandat der UN-Mission für das Referendum in Westsahara (MINURSO). Das Mandat enthielt jedoch nach wie vor keine Bestimmungen zur Überwachung der Menschenrechtslage. Menschenrechtsorganisationen hatten weiterhin keinen Zugang zum Gebiet der Westsahara.

Im Laufe des Jahres starben 1.445 Menschen an Covid-19. Ende 2022 hatten 66,8 Prozent der Bevölkerung mindestens eine Impfung gegen das Coronavirus erhalten.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Behörden nahmen weiterhin Kritiker*innen und Aktivist*innen in Marokko und der Westsahara ins Visier. Mindestens sieben Journalist*innen und Aktivist*innen waren 2022 von Ermittlungen, strafrechtlicher Verfolgung und Inhaftierung betroffen, weil sie die Regierung kritisiert, sich im Internet zu religiösen Fragen geäußert oder ihre Solidarität mit Aktivist*innen zum Ausdruck gebracht hatten.

Der Lehrer Brahim Nafai, der Mitglied der Jugendorganisation Annahj Addimocraty (Demokratischer Weg) ist, wurde im März 2022 in der Stadt Settat von der Polizei vorgeladen, weil er in den Sozialen Medien zu einem Kraftstoffboykott aufgerufen hatte. Er wurde nicht über weitere Schritte informiert, doch wurde sein Fall auch nicht zu den Akten gelegt.

Im April 2022 verurteilte ein Gericht in der Stadt Casablanca die Menschenrechtsverteidigerin Saida Alami zu zwei Jahren Haft, weil sie in den Sozialen Medien die Unterdrückung von Journalist*innen und Aktivist*innen angeprangert hatte. Im September erhöhte das Berufungsgericht in Casablanca ihre Strafe auf drei Jahre, und sie blieb in Haft.

Im Juni 2022 sprach ein Gericht in Tanger Fatima Zahra Ould Belaid im Berufungsverfahren frei. Die Polizei hatte die Aktivistin, die dem globalisierungskritischen Netzwerk ATTAC Marokko (L’Association pour la Taxation des Transactions et pour l’action citoyenne au Maroc) und dem Komitee für einen Schuldenerlass für die Dritte Welt (Comité pour l’annulation de la dette du Tiers Monde) angehört, im November 2021 festgenommen und ihr vorgeworfen, "illegale" Proteste an der Universität von Tanger organisiert zu haben.

Das erstinstanzliche Gericht in der Stadt Oued Zem verurteilte im August 2022 die Bloggerin Fatima Karim nach Paragraf 267-5 des Strafgesetzbuchs wegen "Verunglimpfung" des Islams in den Sozialen Medien zu zwei Jahren Haft.

Im November 2022 verurteilte ein Gericht in Casablanca den Menschenrechtsverteidiger Rida Benotmane zu drei Jahren Haft wegen "Verunglimpfung eines staatlichen Organs", "Beleidigung von Staatsbediensteten bei der Ausübung ihrer Pflichten" und "Verbreitung falscher Behauptungen", weil er den Behörden in Online-Beiträgen vorgeworfen hatte, sie würden Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit ignorieren. Er befand sich Ende 2022 noch im Gefängnis.

Recht auf Privatsphäre

Im März 2022 ergab eine Analyse von Amnesty International, dass zwei Mobiltelefone der sahrauischen Menschenrechtsverteidigerin Aminatou Haidar gezielt mit der Spionagesoftware Pegasus der israelischen Firma NSO Group infiziert worden waren. Auf einem der beiden Mobiltelefone fanden sich Spuren eines Pegasus-Angriffs, die bis September 2018 zurückreichten. Das zweite Mobiltelefon wurde offenbar im Oktober und November 2021 gehackt.

Rechte auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Die Behörden gingen bei mindestens zwei Gelegenheiten mit übermäßiger Gewalt gegen friedliche Demonstrationen vor, auf denen bessere Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte bzw. der Schutz der Rechte von Sahrauis gefordert wurden, und nahmen einige Teilnehmende fest.

Im März 2022 löste die Polizei Proteste von Lehrkräften in ganz Marokko gewaltsam auf. In der Stadt Taounate verprügelte die Polizei einen Lehrer so schwer, dass er im Krankenhaus behandelt werden musste. In der Hauptstadt Rabat nahm die Polizei den Lehrer Hajar Belhouari fest, weil er sich einem friedlichen Protest angeschlossen hatte.

Noch gewaltsamer war das Vorgehen gegen Proteste sahrauischer Aktivist*innen in der Westsahara. Im April 2022 schlugen und traten Angehörige der Polizei den studentischen Journalisten Abdelmounaim Naceri so brutal, dass er das Bewusstsein verlor. Er hatte eine Sitzblockade vor der Präfektur der Stadt Smara in der Westsahara gefilmt, die junge Sahrauis organisiert hatten, um gegen die schlechte soziale Lage der Bevölkerung zu protestieren. Die städtischen Behörden von Laayoune (Westsahara) weigerten sich im April, den neu gewählten Vorstand der Sahrauischen Vereinigung der Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen durch den marokkanischen Staat (L’Association sahraouie des victimes de graves violations des droits de l’homme commises par l’État marocain – ASVDH) zu registrieren. Zur Begründung hieß es, der Vorstand behindere die Arbeit der städtischen Behörden. Am 2. Juli 2022 umstellte die Polizei den Sitz der ASVDH in Laayoune, hinderte Mitglieder gewaltsam daran, das Gebäude zu betreten, beleidigte sie rassistisch und verletzte mindestens zehn Personen durch Schläge und Tritte.

Die Behörden schränkten 2022 die Zulassung und die Aktivitäten von mindestens sieben Organisationen, die sie als oppositionell betrachteten, willkürlich ein und schikanierten deren Mitglieder. Der Antrag des Netzwerks Le Réseau Amazigh pour la Citoyenneté – Azetta Amazigh auf offizielle Registrierung wurde von den Behörden mit der Begründung abgelehnt, die rechtlichen Voraussetzungen seien nicht erfüllt.

Unfaire Gerichtsverfahren

Die Gerichte verstießen gegen das Recht auf ein faires Verfahren, indem sie u. a. identische Polizeiakten für mehrere Angeklagte verwendeten und den Zugang der Beschuldigten zu ihren Rechtsbeiständen beschränkten. Außerdem ließen die Gerichte Vorwürfe der Angeklagten außer Acht, wonach "Geständnisse" unter Folter erpresst wurden.

Am 3. März 2022 bestätigte das Berufungsgericht in Casablanca die sechsjährige Haftstrafe gegen Omar Radi wegen Spionage und Vergewaltigung. Er hatte während seines Prozesses nur eingeschränkten Zugang zu seinen Rechtsbeiständen. Die Justizbehörden verweigerten seinem Verteidigungsteam, Zeug*innen der Anklage zu verhören, und schlossen mehrere Zeug*innen der Verteidigung vom Verfahren aus.

Am 21. Juli 2022 stellte die UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen fest, die Behörden hätten das Recht des Journalisten Suleiman Raissouni auf ein faires Verfahren so schwer verletzt, dass seine Inhaftierung als willkürlich zu gelten habe.

Rechte von Frauen und Mädchen

Im April 2022 ratifizierte Marokko das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau. Im nationalen Recht blieb die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern jedoch verankert, u. a. in Bezug auf das Erbrecht und das Sorgerecht für die Kinder.

Im Juni 2022 äußerte sich der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW) besorgt über die hohe Müttersterblichkeit und den niedrigen Alphabetisierungsgrad von Frauen im ländlichen Marokko.

Eine Untersuchung der NGO Mobilising for Rights Associates aus dem Jahr 2022 ergab, dass die Kriminalisierung von Ehebruch und außerehelichen sexuellen Beziehungen gemäß den Paragrafen 490–493 des Strafgesetzbuchs dazu führte, dass Opfer sexualisierter Gewalt diese Taten nicht anzeigten. Damit wurden Frauen Maßnahmen zum Schutz und zur Vorbeugung von Gewalt sowie angemessene Rechtsmittel und Ansprüche auf Wiedergutmachung vorenthalten. Zudem sorgten die Bestimmungen dafür, dass Gewalt gegen Frauen nicht geahndet wurde.

Schwangerschaftsabbrüche waren nach wie vor verboten, es sei denn, die Schwangerschaft gefährdete das Leben der Mutter. Personen, die einen illegalen Schwangerschaftsabbruch vornahmen oder vornehmen ließen, drohten Haftstrafen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Der Gesetzentwurf 10-16, der den Eingriff in einer begrenzten Zahl von Fällen entkriminalisieren würde, wurde seit 2016 im Parlament blockiert. Im September 2022 starb ein 14-jähriges Mädchen aus einem Dorf in der Nähe von Midelt in Zentralmarokko an den Folgen eines unsicheren Schwangerschaftsabbruchs, der nach einer Vergewaltigung vorgenommen worden war. Mehrere Frauenrechtsorganisationen machten die strenge Gesetzgebung für den Tod des Mädchens verantwortlich.

Im März und April 2022 gingen Angehörige von Polizei und Geheimdienst mit körperlicher, verbaler und sexualisierter Gewalt gegen zwölf sahrauische Aktivistinnen vor, die sich mit der Aktivistin Sultana Khaya solidarisch erklärt hatten (siehe "Folter und andere Misshandlungen"). Die Übergriffe wurden nicht untersucht. Im April übte die UN-Sonderberichterstatterin über die Lage von Menschenrechtsverteidiger*innen Kritik an den marokkanischen Behörden, weil sie sexualisierte Gewalt einsetzten, um sahrauische Menschenrechtsverteidigerinnen einzuschüchtern.

Folter und andere Misshandlungen

Folter und andere Misshandlungen waren sowohl innerhalb als auch außerhalb von Gefängnissen an der Tagesordnung und blieben straflos. Davon betroffen waren insbesondere sahrauische Aktivist*innen.

Im März 2022 wurde der sahrauische Aktivist Mohamed Lamine Haddi, der sich seit 2017 im Gefängnis Tiflet II im Nordwesten Marokkos in Einzelhaft befindet, mehrfach von Vollzugsbediensteten geschlagen. Er war im Zusammenhang mit dem Protestcamp in Gdeim Izik (Westsahara) in einem unfairen Massenverfahren zu 25 Jahren Haft verurteilt worden.

Im Mai 2022 entkam die prominente sahrauische Aktivistin Sultana Khaya ihrem Hausarrest und reiste nach Spanien, um dort die Folgen der Folter behandeln zu lassen, die ihr die Polizei seit Beginn ihres Hausarrests im Jahr 2020 bei mehreren Überfällen zugefügt hatte. Die Vergewaltigungen und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen, die sie und weitere Familienmitglieder erlitten hatten, wurden nicht untersucht.

Im Juni 2022 nahm die Polizei Labbas Sbai fest und inhaftierte ihn im Gefängnis von Zagora im Süden Marokkos, weil er Korruption angeprangert hatte. Dort schlugen ihn Vollzugsbedienstete mit Billigung des Gefängnisdirektors mehrfach. Im Juli wurde er freigelassen.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI+)

Im Juni 2022 stufte der LGBTQ+ Travel Safety Index von Asher & Lyric Marokko auf Platz 170 von 203 erfassten Ländern ein und damit als ein extrem gefährliches Land für LGBTI-Reisende. Grund dafür war, dass laut Paragraf 489 des marokkanischen Strafgesetzbuchs homosexuelle oder "unnatürliche" Handlungen mit sechs Monaten bis drei Jahren Gefängnis und Geldstrafen geahndet werden.

Im Juni 2022 untersagte das Kultusministerium die Vorstellung des Buchs "Lesbian Diaries" von Fatima Zahra Amzkar bei der Internationalen Buchmesse in Rabat. Zuvor hatte es in den Sozialen Medien eine Kampagne mit Hashtags wie #NoToHomosexuality gegeben, die sich gegen das Buch und die Autorin richtete. Der Kultusminister erklärte, das Buch sei nie für die Buchmesse zugelassen worden.

In den Sozialen Medien fand eine Kampagne weite Verbreitung, die unter dem Hashtag #Fetrah (das arabische Wort für primitiv, Natur oder Instinkt) Personen angriff, die sich für LGBTI-Rechte einsetzten, und die Theorie vertrat, es gebe nur zwei Geschlechter. Im Juli 2022 schloss Facebook die entsprechende Seite, die marokkanischen Behörden verurteilten die Kampagne jedoch nicht.

Im Juli 2022 forderte der CEDAW-Ausschuss Marokko auf, Paragrafen des Strafgesetzbuchs aufzuheben, die lesbische, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Personen kriminalisieren.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Im Juni 2022 versuchten etwa 2.000 Menschen, die meisten von ihnen aus dem Sudan, die Grenze zwischen der Stadt Nador in Nordmarokko und der spanischen Exklave Melilla zu überqueren. Die unverhältnismäßige Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte auf beiden Seiten führte zu 37 Toten und 77 Vermissten aus Ländern südlich der Sahara. Nach Angaben des Nationalen Menschenrechtsrats (Conseil National des Droits de l’Homme) wurden 217 Menschen verletzt, darunter 140 Angehörige der marokkanischen Sicherheitskräfte. Die Sicherheitskräfte bewarfen die Menschen mit Steinen, schlugen sie und setzten in geschlossenen Räumen Tränengas ein. Die von den Sicherheitskräften verletzten Migrant*innen bekamen keine medizinische Hilfe. Viele von ihnen wurden gewaltsam in Busse verfrachtet und in verschiedene marokkanische Orte gebracht. Die Staatsanwaltschaft teilte mit, sie habe eine Untersuchung eingeleitet, befragte jedoch weder die verletzten Migrant*innen noch andere Zeug*innen. Stattdessen wurden mindestens 79 Migrant*innen strafrechtlich verfolgt, weil sie ohne gültige Papiere eingereist waren.

Klimakrise

Marokko hatte sein Emissionsziel für 2030, das eine Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 1,5 Grad Celsius gewährleisten soll, noch nicht aktualisiert. Auch wurden keine menschenrechtskonformen Anpassungen vorgenommen oder Maßnahmen ergriffen, um das Risiko von Katastrophen zu verringern und die Bevölkerung angemessen vor den absehbaren und unvermeidlichen Auswirkungen der Klimakrise zu schützen.

Im Februar 2022 erklärte der Weltklimarat, die für den Anbau von Arganbäumen geeigneten Flächen Marokkos würden bis 2070 wahrscheinlich um bis zu 32 Prozent zurückgehen, was eine Bedrohung für die Lebensgrundlagen vieler Menschen und die biologische Vielfalt des Landes darstelle.

Veröffentlichungen von Amnesty International

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